Fast
jeder kann die Konturen dieses Kontinents aus dem Gedächtnis
nachzeichnen: ein großes, langgezogenes Dreieck, das am Isthmus von
Panama wie an einem seidenen Faden hängt und durch dessen »oberes«
Viertel der Äquator läuft. Das Dreieck ist rund 7500km lang und bis zu
5000km breit. An seinem westlichen, pazifischen Schenkel die Anden, am
östlichen das Amazonastiefland und dann die Südspitze mit Patagonien.
Die Struktur des Kontinents ist natürlich weit komplizierter, aber als
geographische und kulturelle Gliederung bieten sich folgende
Großlandschaften an: der zur Karibik hin orientierte Norden mit den
Ländern Kolumbien, Venezuela und den drei Guyanas; die Staaten der
Zentralanden: Ecuador, Peru und Bolivien; Brasilien, das 40 Prozent der
Landmasse mit dem Amazonasbecken und dem zentralen Hochland einnimmt;
die Länder am La-Plata-Becken - Paraguay, Uruguay und Argentinien;
schließlich Chile, das sich am äußersten Westrand als schmaler
Streifen über mehr als 4000km von Nord nach Süd erstreckt.
Der
vielseitigen Gestalt Südamerikas entsprechen die Klimazonen, Flora und
Fauna: im Norden relativ mildes, karibisches Küstenklima, im
Amazonastiefland immerfeuchte Tropen, in der Andenregion der krasse
Klima- und Vegetationswechsel je nach Höhenstufe, im südlichen Zipfel
des Kontinents gemäßigtes Klima, dessen Jahreszeiten gegenüber denen
von Mitteleuropa um sechs Monate verschoben sind und die dem Einfluß
antarktischer Kaltluftfronten unterliegen. Das Wetter an der pazifischen
Küste wird bis in die Nähe des Äquators durch den kalten
Humboldtstrom bestimmt; er sorgt dafür, dass Lima häufig unter einer
dichten Nebeldecke liegt. Gleichwohl fällt im schmalen pazifischen
Küstenstreifen so gut wie nie Regen - von Nordperu bis nach Mittelchile
ist die Küste eine einzige Wüste. Auch das scheinbar so fruchtbare
Amazonasgebiet ist im Grund eine »grüne Wüste«, wie wir heute
wissen. Der Regenwald existiert auf extrem nährstoffarmen Böden und
erhält sich nur durch ein ausgefeiltes System verschiedener
Nahrungsketten. Deshalb ist die Artenzahl der Pflanzen und Tiere, die
Biodiversität, sehr hoch.
Gleichwohl
ist es bezeichnend, dass in Südamerika in freier Natur keine großen
Säugetiere leben, das größte ist der ponygroße Tapir. Aber
Südamerika hat durch seine isolierte Lage besondere Formen der Tierwelt
hervorgebracht - wie beispielsweise die kamelartigen Lamas, Alpakas und
Guanakos, die Greifschwanzaffen, die sehr altertümlich wirkenden
Gürteltiere, Ameisenbären und Faultiere und schließlich die
winzigsten Flieger: die Kolibris. Gäbe es ein Wappentier von
Südamerika, dann müssten sich vermutlich der Kondor und der Papagei
die Ehre teilen: Der erste steht für die Anden, der zweite für das
Amazonasgebiet.
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Buchseiten reichen bei weitem nicht aus, um auch nur ansatzweise alle
Reiseziele des Subkontinents zu beschreiben. Dieser Reiseführer
beschränkt sich deshalb auf eine zugegeben subjektive Auswahl der
»Höhepunkte« und bekanntesten Reiseziele für den Touristen mit wenig
Zeit. Südamerika ist als Reiseziel immer noch wenig erschlossen. Mangel
an Naturschönheiten und Kulturdenkmälern kann dafür kein Grund sein.
7400 Kilometer brasilianischer Atlantikküste, wie man sich das Paradies
erträumt, idyllische Kolonialstädtchen, bunte Indianermärkte,
Inkaburgen, die sich neben den Pyramiden sehen lassen können,
Schneeberge in den Anden und Regenwälder am Amazonas - zwischen dem
Panamakanal und Feuerland liegt ein ganzer Kosmos verschiedener
Landschaften und Kulturen. Beim genauen Hinsehen entpuppt sich
Südamerika als so bunt und vielfältig wie Europa - nur dass der
Kontinent durch die Lingua franca Spanisch (bzw. Portugiesisch)
zusammengehalten wird. Ein paar Brocken »Castellano« aus dem letzten
Urlaub an der Costa Brava können dem Reisenden in Südamerika nicht
schaden. Spanisch wird auch in Brasilien eher als Englisch verstanden.
Wichtig ist der Kontakt von Mensch zu Mensch, auch wenn dieser ein »Gringo«
ist.
Der
direkte Blickkontakt schreckt auch potentielle Diebe ab. Wer würde
schon einen amigo beklauen? Der sensible Tourist wird sich an seine
Umwelt anpassen und nicht mit seinem Reichtum protzen. Die Kamera
gehört in eine unauffällige Einkaufstüte, der Schmuck in den
Hoteltresor, die Brieftasche ebenso. Eurocheques sind in Südamerika
unbekannt, Dollars - am besten in kleiner Stückelung - dagegen nicht.
Die »greenbacks« gelten fast überall als Parallelwährung. Vorsicht
beim Geldwechseln auf offener Straße! Oft werden einem alte, ungültige
Noten angedreht, deren Wert nur den vielen aufgedruckten Nullen
entspricht. Wie das Geld, so zerfließt auch die Zeit in Südamerika ins
unbestimmte. Mañana braucht nicht »morgen« zu heißen, pronto (bald)
kann auch »später« sein. Wer nach Viertelstunden rechnet, hat selber
schuld. Gottvertrauen und Geduld, lederne Trommelfelle, eine dicke Haut,
flinke Augen und offene Herzen sind gute Eigenschaften, um in
Südamerika weiterzukommen, Arroganz und Besserwisserei nicht.
Wer
nicht gerade auf Expeditionen tief in den Dschungel vordringen will oder
plant, in einer Favela zu hausen, kann auf Malariaprophylaxe verzichten,
nicht aber auf Gelbfieberimpfung, deren Nachweis z.B. Brasilien bei
allen Reisenden aus den Andenländern verlangt. Grippetabletten und ein
Pullover (für die kalten Andennächte oder die klimatisierten
Hotelfoyers) sind von höherem Nutzen. Kurze Hosen oder
Gesundheitssandalen bleiben besser daheim. Erstens erkennt man daran
gleich den Touristen, und zweitens sind Tennisschuhe und T-Shirt den
Umständen von Hitze, Staub und Schlamm besser angepasst. Wer glaubt,
die Koffer selber tragen oder seine Schuhe selber putzen zu müssen,
macht sich lächerlich und nimmt den vielen, oft aufdringlichen
dienstbaren Geistern das Brot. Auch hier gilt die Regel: Bestimmt
auftreten, klare Anordnungen geben - und dann den Dienst ordentlich
bezahlen. Feilschen sollte man nur um größere Beträge. Präzise
Auskünfte sind selten zu erhalten, der Reisende sollte sich auf seinen
Instinkt und Menschenverstand verlassen.
Südamerika
ist nicht der kleine, gepflegte Garten Europas. Alle Dimensionen sind
anders - vor allem größer. Während in der Alten Welt die Probleme der
Vergangenheit und Zukunft gewälzt werden, leben die Südamerikaner in
der chaotischen Gegenwart. Europa gleicht einem Museum - Südamerika
einem akrobatischen Zirkus. Jeder Tag ist neu, und morgen kommt ein
anderer.
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