Am
liebsten wäre Bolivien wohl das wärmste Andenland. Darum wirbt es auch mit
der Warmherzigkeit seiner Bewohner. Dabei ist es in seiner Kernregion, dem
Andenhochland, aufgrund der extremen Höhen um 4000 m zumindest nachts
so kalt, dass ein Hotelzimmer mit Heizung als Wohltat empfunden wird.
Und tagsüber gleißt die Hochlandsonne dort so aggressiv, dass schon
der höchste Schutzfaktor in der Sonnencreme sein muss, wenn sie bei
Spaziergängen oder gar Wanderungen vor Verbrennungen bewahren soll.
In
Tiwanaku zum Beispiel, dem schattenlosen Ruinenfeld einer rätselhaften
Kultur mit weinenden Gottheiten, haben die Fremdenführer schon mal zur
Not ein paar Tropfen
Sonnenschutzcreme für schlecht vorbereitete Urlauber übrig. Es breitet
sich am Fuß der Königskordillere aus, die mit ihren stolzen
schneebedeckten 6000er Gipfeln den südlichen Breitengrad vergessen lässt.
Majestätisch regiert sie das Hochland. Zu der vor Jahrmillionen geborenen
seltsam schweren Landschaft gehören der weltberühmte Titicacasee ebenso
wie die unbekannten weiten Salzseen an der Grenze zu Chile oder die
Lagunen, in die sich Flamingos flüchten.
Die
Luft im Hochland ist dünn. Man muss nicht die Königskordillere
erklimmen, um schnell aus der Puste zu kommen. Ungeübte pausieren auch
schon beim Bummel durch die steilen Gassen der einst
reichsten Stadt Lateinamerikas, in Potosí. Die Altstadt ist
Unesco-Weltkulturgut - wie das nahe Sucre. Im Gegensatz zu dieser
strahlend frisch gestrichenen Kolonialstadt, die Sitz des Obersten
Gerichtshof in Bolivien ist, wirkt Potosí wie eine morbide gewordene
Prachtkulisse aus längst vergangenen Glanzzeiten. Im Cerro Rico
erbeuteten die Spanier einst soviel Silber, dass sie eine Brücke bis
Europa hätten bauen können.
Heute
ist Bolivien das ärmste Andenland. Die Touristiker drehen diese Tatsache
gern um. Sie behaupten: "Wir sind das reichste Land - weil wir hier
noch Zeit haben." Tatsächlich scheinen
die Uhren in Bolivien viel langsamer zu gehen als im Nachbarland Peru.
Angesichts der schlechten Straßenverhältnisse hat man sogar oft das
Gefühl, die Zeit sei in diesem Land schlicht stehen geblieben. Nur ein
geringer Teil ist asphaltiert; der Rest sind abenteuerliche Pisten. Die
schlechten Transportwege lähmen die Wirtschaft. Aber sie beflügeln den
Geist des Reisenden. Ein unvergessliches Erlebnis ist beispielsweise die
Fahrt zu den Yungas am Ostrand der Königskordillere. Die Abgründe, die sich zu
den Tälern auftun, sind so
schwindelerregend tief, dass man den Kondor um seine Schwingen beneidet,
die ihm den sicheren Flug
über die Schluchten ermöglichen.
Im
östlichen Tiefland kehren sich die Verhältnisse in ein anderes Extrem
um. Hier brachte der Bau einer Erdstraße zwischen Cochabamba, der
landwirtschaftlichen Metropole der Mitte, und der Erdöl- und
Schmugglerstadt Santa Cruz an der Grenze zu Brasilien eine Boomtown
hervor, die längst La Paz an Einwohnern überflügelte: Santa Cruz zählt
heute 1,7 Millionen Bewohner.
Die
lang entbehrten tropischen Temperaturen lassen es schon bei der Landung in
dieser Stadt erahnen: der Urwald ist nicht weit. Er beginnt
nicht zufällig auch dort, wo wieder einmal die asphaltierten Straßen
enden. Die Ausflugsveranstalter der Stadt hält das nicht auf. Um beispielsweise
zu
den ehemaligen Missionsdörfern der Jesuiten zu gelangen und ihren
wunderschön verzierten alten Holzkirchen, oder auf den Spuren Ché
Guevaras zu wandeln, durchfahren sie Schlammwege und Flüsse und
qualifizieren sich für die nächste Camel-Trophy-Tour - bis alles
durchdreht. Vor allem in der Regenzeit muss jeder mit anpacken, um die
Jeeps wieder flott zu machen. Spätestens hier hat man es begriffen:
Bolivien ist ein Abenteuerland - ob im Hochland oder im Tiefland.
Vielleicht sogar eins der letzten echten auf dieser Erde.
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