Politik und Gesellschaft

Latente Konflikte

Rückblick auf den kürzesten Ausnahmezustand in Bolivien

Von Gerd Mielke, Sucre

Demonstrierender Minenarbeiter

Foto-Quelle: "Bolivien" von Thomas Pampuch und Agustin Echelar A., ersch. in Beck`sche Reihe Länder. Der kleine Band gehört zur unverzichtbaren Lektüre für alle, die über Klischees hinaus etwas über Bolivien erfahren wollen, z.B. über die Rolle der verschiedenen Gruppen des Landes: Oberschicht, Mestizen und Indianer, Bergarbeiter, Militär und Kirche http://www.amazon.de

Bolivien ist das zweitärmste Land Lateinamerikas. Immer wieder flammen Proteste und Streiks von Landarbeitern, Lehrern oder Studenten auf, die sich gegen die politische Führungsschicht richten, der es ihr in den letzten Jahrzehnten nicht einmal gelang, die schlimmsten sozialen Ungerechtigkeiten auszugleichen.

Im Frühjahr 2000 kam es zum Ausnahmezustand, ausgerufen von Regierungschef General Hugo Banzer Suárez. Dieses staatliche Instrument zur Wiederherstellung der Ordnung im Fall "schwerer Gefahr auf Grund innerer Unruhen..." (Fußnote 1) stieß weitgehend auf Ablehnung unter der Bevölkerung. Viele - auch bisherige Befürworter der Regierung Banzer empfanden den zunächst für 90 Tage verordneten Ausnahmezustand als Rückschritt in der Demokratisierung des Landes.

Vorausgegangen waren wieder einmal mehrere Protestaktionen - ausgelöst durch die wirtschaftliche Rezession im Land, ein umstrittenes Landverteilungsgesetz, Benzinpreiserhöhungen sowie eine Anhebung der Transportkosten und der Tarife im Dienstleistungssektor. In Cochabamba demonstrierten große Teile der Bevölkerung gegen die für sie, angesichts einer katastrophalen Wasserversorgung unverständliche Anhebung der Tarife für Wasser. In La Paz und anderswo bekundeten Campesinos wirkungsvoll ihre Unzufriedenheit über die erneute Bedrohung ihres ohnehin miserablen Lebensstandards mit Strassenblockaden auf allen wichtigen Verbindungswegen. 

In Sucre schließlich, der konstitutionellen Landeshauptstadt und akademisch geprägten Metropole, gingen die Studenten auf die Barrikaden, um zwei strafweise von der Universität ausgeschlossenen Kommilitionen wieder Zugang zur Jura-Fakultät zu verschaffen. Dazu forderten sie die Annulierung eines dubiosen Deals, den der Rektor auf höchst eigenmächtige Weise zugunsten des Politikers und Unternehmers Dorian Medina und seines Zementkonsortium Soboce eingefädelt hatte: den Verkaufs der Uni-Anteile an die lokale Zementfabrik Fancesa.

Wie in ganz Lateinamerika schaukeln sich auch in Bolivien vereinzelte Proteste oft zu kollektiven Protestwellen auf - als ob sich eine permanent latente Unzufriedenheit entlädt. Dabei sind die Streikgründe so vielschichtig sind wie das Land selbst. Befragt man die Menschen dieses ethnisch immer noch abgegrenzten, und sozial kaum vermischten Staates,finden nur wenige eine schlüssige Erklärung für die Eskalierung der Proteste. Das einzig erkennbare Muster: Je größer die Repressalien, umso größer die Einigkeit.Und Präsident Banzer ist erfahren in politischer Repression: Von 1971 bis 1977 regierte er Bolivien als Diktator, nachdem er sich mit Hilfe seiner Militärs an die Macht geputscht hatte. Einer seiner politischen Berater war damals der berühmt-berüchtigte "Schlächter von Lyon", der Nazi Klaus Barbie. Mit seiner Hilfe gelang es Banzer seinerzeit rasch, die "Asamblea Popular", eine volksnahe Räteversammlung, zu zerschlagen, die sich mit Unterstützung seines Vorgängers, des gestürzten linksnationalistischen Präsidenten Torres, aus Campesinos, Arbeitern und Mittelklasseangehörigen gebildet hatte. Die Strassenkämpfe gegen die Militärs kosteten damals in den Strassen von La Paz Hunderten von Menschen das Leben.

Hugo Banzer ist seit 1997 demokratisch gewählter Präsident des Landes. In seinen ersten Jahren als "jefe de estado" zeichnete er sich durch eine vergleichsweise sanfte Regierungsführung aus, so daß schon das Gerücht kursierte, er wolle als demokratisch bekehrter Diktator in die Geschichte eingehen.

Der Ausnahmezustand - war er ein Rückfall in die Diktatur oder Notbremse eines erfahrenen Politikers? Eine Frage, die sich für die katholische Kirche, die politische Opposition und die Menschenrechtsorganisation in Bolivien nicht stellte. Sie warfen Banzer sogleich Mangel an Dialog- und Kompromissbereitschaft vor. Tatsache ist: Der Ausnahmezustand erstickte die kollektive Protestwelle. Die Situation wurde nur noch einmal brenzlig: Als die Polizistenfrauen per Hungerstreik eine bessere Bezahlung und Behandlung für ihre Männer zu erzwingen versuchten. Etwa 1000 Polizisten weigerten sich, den Streik aufzulösen und liefen zu ihren Frauen über. Darauf geschah, was kaum einer zu hoffen gewagt hatte: Innerhalb weniger Stunden verkündete die Regierung eine Anhebung der Polizeigehälter um 50 Prozent.

Zweifellos ein großer Erfolg, zumal die Regierung sich auch verpflichtete, die Gehälter jeweils bis zum 10. eines jeden Monats zu zahlen (und nicht, wie üblich, wochenlang mit der Auszahlung zu warten), für bessere Uniformen zu sorgen und Weiterbildungsmaßnahmen einzuleiten. Für den Polizisten bedeutete die Gehaltsanhebung letztlich zwar kaum mehr als eine Erhöhung auf monatlich umgerechnet 300 statt vorher 200 Mark. Das Land kostet sie indes an die 80 Millionen US$ an Mehrausgaben pro Jahr.

Die Ursachen für das schnelle Einschwenken der Regierung wurden später klar: Die Polizisten hatten bereits begonnen, sich zu formieren. Und nachdem Militärs des Regiments Colorados schon die Polizeikaserne unter Tränengas gesetzt hatten, war es im Regierungsviertel von La Paz schließlich zu Schießereien zwischen Militärs und Polizei gekommen. Zweifellos eine alarmierende und höchst gefährliche Situation.

Banzer hob den Ausnahmezustand schon nach 12 Tagen wieder auf. Dazu begab er sich in die Kathedrale von La Paz, um im Namen des Staates um Verzeihung für die begangenen Fahler und Sünden zu bitten. Bilanz des "estado de sitio": Fünf Todesopfer - drei Uniformierte und zwei Zivilisten. Obwohl immer wieder an die Besonnenheit und Vernunft appelliert worden war, hatte es zwischen Demonstranten und Ordungskräften brutale Ausschreitungen gegeben. Eins der Opfer: Armeehauptmann Tellez. In Achacachi, im Hochland und Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Militärs und Campesinos, lag er schon verletzt im lokalen Krankenhaus, als ihn die aufgebrachte Menge wieder aus dem Krankenzimmer entführte, auf den Innenhof des Hospitals schleifte und dort massakrierte.

In das lange paralysierte Cochabamba kehrte Ruhe ein, nachdem das Wasser-Versorgungsunternehmen "Aguas de Tunari" die Verträge mit der Regierung aufkündigte. Und wenig später wurden im Fernsehen schon wieder Bilder von den Vorbereitungen der Feiern zu "Nuestro Jesús de Gran Poder" gezeigt, die immer Ende Mai/Anfang Juni mit langen Umzügen und Tänzen zu Ehren von Jesus in La Paz stattfinden.- Ende des kürzesten Ausnahmezustands in der Geschichte Boliviens.

Fußnote 1: "En los casos de grave peligro por causa de conmocion interna o guerra internacional, el jefe del Poder Ejecutivo podra, con dictamen afirmativo del Consejo de Ministros, declarar el estado de sitio en la extension del territorio que fuera necesario" (Articulo 111, I., Constitucion Politica del Estado)

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Stand: 15. May 2002
 

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