CariLat-Karibik-Lateinamerika-Magazin

Havanna

von Sabine Weise 

Seite 2

Von weitem liegt ein großartiger Zauber über der "Alten Dame" La Habana. Erst wenn man sich der alternden Schönheit nähert, sieht man den Zerfall. Details erinnern hier und dort an den Glanz vergangener Zeiten. Ein paar wunderschöne alte Kacheln an der zerbröckelnden Eingangtür eines zerfallenden Hauses. Dort die Reste eines Portals, über dem ein Fenster mit leuchtend bunten Gläsern noch erhalten ist. Schmutziges Stuckwerk an schmutzigen Häuserwänden. Ein Wesen hüpft aus einem Hauseingang direkt vor meine Füße. Es ist eine steinalte Greisin, die mich aus weit geöffneten Augen zuerst erstaunt, dann scheinbar höchst beglückt ansieht. Ein junges Mädchen kommt ihr nachgehüpft und will sie wieder ins Haus ziehen. Die Greisin schüttelt sich wie eine Marionettenpuppe an Fäden und umarmt mich dann mit ihren schwachen Armen. Ich fühle ihre uralte, reptiliengleiche, von unzähligen Falten übersäte Haut. "Sie ist 102 Jahre alt und manchmal weiß sie nicht mehr, was sie tut", meint das junge Mädchen entschuldigend. "Lass' mich doch", säuselt die Alte verzückt. "Lange habe ich nicht mehr hier bei Euch... Lasst mich endlich machen, was ich will!" Sie winkt uns nach, die verklärten Augen weit geöffnet. Rubén González hat einmal gesagt: "Wir sind wie die letzten Funken, die aufsprühen, bevor das Feuer erlischt."

Nie zu erlöschen scheint das Feuer hingegen am Malecón. Hier ist der Hot Point für alle, Musik, Tanz und Bier, Leben. Fast jeder Getränkestand hat sein eigenes Musikgerät und seine eigene Geräuschkulisse. Hinter den Ständen spritzt die Meeresgischt hoch. Einige Leute baden sich in der Abendsonne, aber die meisten sitzen an der Ufermauer oder tanzen, laufen herum, trinken, feiern und lachen. Hier auf der berühmten Uferpromenade Havannas, wo einst reiche Amerikanerinnen in Juweliergeschäften einkauften, brodelt das Leben am Tag und vor allem in der Nacht. Hier, vor der kaputten Häuserzeile, in der manche Gebäude nur noch mit Hilfe von Holzgerüsten und -stützen durchhalten. Eine bizarre Kulisse zu Havanna's Bühne des Lebens.

Wir haben ein Zimmer in der Nähe des Kapitols gemietet, bei einer älteren Dame namens Bertha. Die dicke Bertha läuft in knallengen hotpants vor uns die Treppe hinauf und zeigt uns das Zimmer. Ein Zimmer mit Liebe gepflegt, hier hat ihre Tochter Paula gewohnt, bis sie nach New York gegangen ist. Bertha spricht am laufenden Band: "Die Klospülung habe ich außer Kraft gesetzt, weil die Touristen sie immer misshandelt haben. Sie haben immer so wild gezogen, dass das Wasser nicht mehr aufhörte zu fließen. Darum gibt's jetzt den Eimer hier. Alles in allem kostet es Euch 25 Dollars, ihr seid direkt im Herzen der Stadt, die Altstadt ist gleich um die Ecke."

Ein großer Teil der Altstadt ist saniert. 1982 wurde La Habana Vieja von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt. Das historische Viertel wirkt wie eine reife, saftige Frucht inmitten eines Korbes verfaulenden Obstes. Prächtige Häuserfassaden erstrahlen in leuchtenden Farben. Wunderschöne frisch restaurierte Bars, Restaurants und Cafés, in denen man sich in die 20er, 30er oder auch 50er Jahre hineinversetzt fühlt, an jeder Straßenecke. Viele verschiedene Musikgruppen spielen überall für die dollarbesitzenden Ausländer. Museen wie das Haus zu Ehren von Simón Bolivar, dem großen Befreiungskämpfer und Staatsmann Lateinamerikas, sind schon wegen ihrer Architektur ein Schatzkästchen. Im weiten, von Säulen umgebenen und mit farbprächtigen tropischen Pflanzen bewachsenen Innenhof, hängt ein Riesenkäfig mit zwei bunten Papageien. "Sie können sprechen", sagt eine der hübschen Wärterinnen. Aber sie scheinen wohl gerade ihre siesta zu halten, ein müdes Krächzen ist im Moment alles, was den schläfrigen Papageien zu entlocken ist. Auf der Plaza de la Catedral sitzen Touristen in der Sonne, als orishas (die Götter des Yoruba-Pantheons) verkleidete Schauspieler spielen kurze Geschichten aus den Legenden der Götter. Eine in Shangó's Farben Rot und Weiß gekleidete Frau sitzt mitten auf dem Platz, den Zigarrenstummel im Mundwinkel, und legt Touristinnen die Karten. Alles so sauber, geputzt und frisch gestrichen, dass man sich manchmal Disneyland näher fühlt als Cubaland. Auch die jineteros fehlen hier nicht. Viele Jugendliche kommen mit mehr oder weniger gutem Englisch auf uns zu und bieten sich als Touristenführer an oder fragen manchmal gleich direkt um Geld. In einer Seitengasse schließt gerade ein Mann eine kleine Galerie auf und läd uns ein, seine Kunstwerke zu besichtigten. Gleich hinter der Türe sitzt ein aus Holzteilen zusammengezimmertes Skelett, ein alter Mann am Stock, eine Kalebasse auf seinen Knien für Opfergaben. Zigarren liegen darin und Ein-Dollar-Scheine. Auf einem kleinen Schild steht pasado - presente - futuro. "Ich habe diesen Alten in Gedenken an unsere Ahnen gemacht," erzählt Generoso. "Die Afrikaner, die hierher verschleppt wurden und in Sklaverei leben mussten. Dieser Alte stellt unsere Vergangenheit dar. Und er sitzt hier für eine bessere Gegenwart und Zukunft." Dann zeigt er uns seine Gemälde und Skulpturen, die fast ausschließlich orishas darstellen. Am öftesten hat er sich Ochún gewidmet, dieser süßen Göttin in Gelb, die nicht treu sein kann und mit ihrem verlockenden Körper die Männer verführt, die Honig als Opfergabe fordert, wenn man ihre Dienste benötigt. "Ich hatte gerade eine Ausstellung in Mexiko und bald reise ich für eine andere Ausstellung nach Deutschland." Generoso zeigt uns sein Einladungsschreiben von der Stadt Leipzig. "Aber leben, überleben kann ich nur hiermit". Er zeigt uns kleine geschnitzte Holzreliefs, die mit viel Liebe zum Detail Begebenheiten aus der Mythenwelt der Götter darstellen und die er für 5 Dollars an Touristen verkauft.

Wieder zurück in Kuba fühlt man sich sofort, wenn man die Altstadt verlässt und sich in das vermodernde, "echte" Havanna begibt. Hier wird man eher wieder in Spanisch angesprochen. Es geht zum Beispiel um die fehlende Milch für die kleine Tochter. Ein junger Mann bittet mich inständig, mit ihm in das Geschäft an der Ecke zu gehen, und dort für 4 Dollar Milch zu kaufen. "Nein, nein, ich will kein Geld", sagt er, "bitte geh' mit mir, um die Milch zu kaufen. Meine Tochter braucht sie dringend!" Viele der Gesichter, die man auf den von Abgasen geschwärzten Straßen sieht, sind ernst, oft ausgemergelt. Vielen Menschen sieht man den Kampf ums tägliche Überleben an.

Von weitem tönt afrokubanische Musik auf die Straße. Wir nähern uns den immer lauter werdenden Klängen und mischen uns in die Gruppe von Zuhörern, die durch kaputte Fenster in einen Raum blicken, der aussieht wie ein ehemaliges Lager nach einem Bombenangriff. Über der Eingangstüre steht noch cine, Kino, und hier spielt sich eine Gruppe junger Musiker die Seele aus dem Leib. Für diesen Sound müsste man in jedem Jazzlokal der Welt teuren Eintritt bezahlen. Ein Sound der die Menschen anlockt und die Herzen erwärmt, der kraftvoll über alles Elend hinwegtönt, der durch die Ohren in den Körper strömt wie flüssiges Gold. Ein Sound, der noch viele Stunden hängen bleibt. Auch wenn man weitergeht und wieder im ohrenbetäubenden Lärm einer großen Kreuzung steht. Die Luft ist von den Abgasen geschwärzt, die Hitze drückt und das Atmen fällt schwer. Wir quälen uns weiter durch die Straßen, die engen Gassen mit all ihren Geheimnissen, die sich einem durch offene Türen und Fenster wie kurze Schnappschüsse aus dem kubanischen Leben darbieten. Ein junges Mädchen liegt in einer sala am Boden und hört Musik, eine alte Frau mit einer Riesenzigarre im Mund kämmt ihre Enkelin, ein Vater läuft mit einem Ledergürtel in der Hand seinem laut schreienden Sohn nach, ein junges Paar küsst sich innig im Schatten eines Hauseingangs, ein alter Mann im Schaukelstuhl fächelt sich mit der Parteizeitung Granma Wind ins Gesicht. Überall werden Blumengestecke angeboten, die meist nicht für die Frau oder Geliebte gekauft werden, sondern für den Hausaltar. Die orishas brauchen Zuwendung, sie fordern ihre Opfergaben, Blumen, Kerzen, Tabak und Rum, Honig usw.

Abends sitzen wir im Parque Central auf einer Bank, hier ist es relativ ruhig. Die laue Abendluft tut gut. Es dauert nicht lange, da steht plötzlich ein Polizist mit Deutschem Schäferhund vor uns. "Pässe!" schnauzt er uns an. Wir haben die Pässe dabei. "Warum, was ist passiert?" wollen wir wissen. Nach eingiebiger Untersuchung jedes einzelnen Blattes der Pässe erweist uns der ruppige Polizist die Ehre, zu antworten. "Ja, ihr Touristen habt ja keine Ahnung, aber hier in diesem Park gibt es viel Kriminalität." Wir schauen uns um, aber die Atmosphäre scheint absolut harmlos und ruhig. "Es dauert nicht mehr lange und dann kommen sie von überall her aus ihren Löchern heraus. Es ist sehr gefährlich hier." "Wer kommt denn da um Gottes willen aus den Löchern heraus?" Wir haben keine Ahnung, worauf das Ganze hinauslaufen soll. "Ja, die Homosexuellen, ihr werdet schon sehen, hier versammeln sich immer die Homosexuellen und dann sind vor allem ausländische Männer in großer Gefahr." Die Untersuchung unserer Pässe scheint dieses Paradebeispiel eines personifizierten Hüters der Ordnung jedoch wieder etwas milde gestimmt zu haben, denn er meint mit leicht zynischem Lächeln: "Meinetwegen könnt ihr hier sitzen bleiben. Aber ich habe Euch gewarnt."

Als wir spät abends - übrigens ohne gefährliche Übergriffe - wieder zu Berthas Haus zurückkehren, stellt sie uns einen neuen Gast vor. Ein junger Musiker aus Deutschland, Robert. Bertha ist von dem blonden Roberto begeistert. "Den ganzen Tag haben wir zusammen verbracht. Ich habe mich bei ihm untergehakt und ihn durch die ganze Altstadt geführt. Allen meinen Bekannten habe ich ihn vorgestellt als meinen neuen jungen Liebhaber". Bertha amüsiert sich köstlich, der humorvolle Robert grinst wohlwollend. "Und das Beste war, ich konnte erzählen was ich wollte, denn Roberto kann kein Spanisch und hat meine Flunkereien nicht einmal verstanden. Was für ein schöner Tag!" Roberto erzählt, er habe keine Chance gehabt gegen Berthas großmütterliche Macht. Sie habe ihn unter ihren Arm geklemmt und los sei es gegangen. Dafür habe er viel gesehen und hier und da auch schon so manches Wort verstanden. Und lustig sei es auf jeden Fall gewesen! Roberto möchte, dass ich Bertha frage, wie viel der Eintritt ins Cabaret TROPICANA kostet. Bertha kreischt auf: "So ein Frechling! Was will denn dieser Hänfling im TROPICANA? Ja, hat denn die Welt so was schon gesehen? Kaum aus den Windeln und schon ins TROPICANA! ..... Sag' ihm, der Eintritt kostet 100 Dollars, mit Menü und einem Getränk, aber das Geld kann er sich sparen, ich koche ihm hier viel besser als in jedem TROPICANA! Und sag' ihm, er soll mir ja keine Mädchen mit hierher bringen!" Ich übersetze alles brav. "Sag' ihr, wenn dann nur eine", flaxt Robert zurück. "Keine!" ist die entschiedene Antwort. "Einmal und nie wieder! Einmal hat ein Kanadier zwei jineteras mit hierher gebracht, ja zwei!, und am nächsten Morgen waren sie weg und weg waren auch meine schönsten Handtücher, mein Kerzenleuchter und was weiß ich nicht noch alles. Also: kein Mädchen!" "Kein Mädchen", wiederholt Roberto kleinlaut.

Wir warten an der Heldenstatue des Máximo Gómez auf den Touristenbus, um wieder zurück ans Ende der Welt zu fahren. Die Transportmöglichkeiten sind wie in einem Apartheitssystem in zwei große Kategorien eingeteilt: Kubaner und Touristen. Die einen dürfen nur hiermit fahren, dafür die anderen nicht und umgekehrt. Für die Kubaner ist der Transport muy dificil. Die öffentlichen Busse sind nicht pünktlich und fast immer total über-überladen. Theoretisch kann einen jeder Autofahrer mitnehmen, aber es tut eben auch nicht jeder und das Warten an einer carretera unter karibischer Sonne zieht sich oft über Stunden hin. Natürlich gibt es kubanische Taxis mit Preisen in Pesos, aber auch 10 Pesos sind eben 10 Pesos, und das Geld ist knapp. Einheimische Taxis sind wiederum für Touristen eigentlich verboten, und wenn man trotzdem einen Dollar-Deal aushandelt, steht der Taxifahrer unter Höchststress, denn er darf sich nicht erwischen lassen. Das bedeutet, er muss einen möglichst verschlungenen Weg durch die hintersten Gassen suchen, an jeder Straßenecke vorsichtig schauen, ob nicht irgendwo ein Polizist zu sehen ist, und im Zweifelsfall kann es dann heißen: "Köpfe ‚runter!" Für Touristen gibt es extra Dollar-Taxis und extra Dollar-Busse, die meist pünktlich losfahren und allen Komfort bieten. Mercedes-Benz-Busse mit Aircondition, Fernseher und bequemen Sitzen. Aber hier dürfen Kubaner nicht einsteigen. Bzw. können den in Dollars bezahlbaren Fahrpreis nicht zahlen. Die knappe Stunde Fahrt von Havanna nach El Fraile kostet 6 Dollars, das ist so ungefähr ein halber Monatslohn. Der pünktliche Touristenbus ist heute nicht pünktlich. "Es scheint ein Problem zu geben", meint ein einbeiniger Mann an Krücken, der sich zu uns gesellt hat. "Ich bin jeden Tag hier und immer kommt der Bus pünktlich um vier Uhr. Wenn er nicht kommt, gibt es ein Problem". Wir warten weiter. Ernesto erzählt: "Ich kann nicht mehr arbeiten. 1977 habe ich in Angola mein Bein verloren, da war ich noch ein junger Mann. Ein Tanker ist in die Luft geflogen. Ich bin froh, dass ich noch lebe! Aber ich bin Sohn des Eleguá und Eleguá ist mit mir. Morgen werde ich 47 Jahre alt. Ja, .... und heute bin ich auf der Suche nach jemanden, der mir vielleicht zwei Dollars ermöglichen könnte, damit ich morgen am Malecón meinen Geburtstag feiern kann..." Ein verschmitztes Lächeln zeichnet sich um seine Mundwinkel. Als der Bus nach einer Dreiviertelstunde dann endlich doch erscheint - nein, es gab kein Problem, es sei alles ganz normal -, verabschieden wir uns von Ernesto. Er steht unter der Heldenstatue und winkt uns mit einer Krücke nach.

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Stand: 15. May 2002
 

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