CariLat-Karibik-Lateinamerika-Magazin

Eine Reise durch das Reich des Máximo Líder

von Sabine Weise 

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Wir Kubaner sind wie die Delfine. Das Wasser steht uns bis zum Hals, und wir lachen immer noch und tanzen über dem Meer." Sagt es und hebt wie zur Bestätigung seiner These über die allgemeine und besondere Situation der Kubaner zu hohen quiekenden Tönen an, die sich sogleich in schallendes Gelächter ergießen. Alberto ist Taxifahrer und wir sind auf der Suche nach Quartier, fern von Touristenorten und - wenn möglich - am Meer. Am besten in einer casa particular, einem Zimmer oder Appartment, das man (seit 1993 legal) privat bei einer Familie mieten kann. Wir fahren vom Flughafen Juan Gualberto Gómez bei Varadero, das an der Nordküste etwa in Nackenhöhe des Krokodils liegt, gen Westen. Grün und lang wie ein Krokodil sei die Insel, schrieb der kubanische Dichter Nicolás Guillén über seine Heimat.

Das Meer liegt zu unserer Rechten, hellblau-türkis bis dunkelsmaragdgrün, leichte Wellen brechen sich an der Felsküste. Es ist früher Nachmittag, sengende Hitze. Alberto redet ohne Unterlass und wird auch nicht müde, uns Marke und Baujahr jedes vorbeifahrenden Oldtimers mitzuteilen: "Chevrolet 1952.... Der da ist ein 1959er..... Und das ist ein Cadillac 1954." Usw.

Wir fahren durch Matanzas. "Eine der schönsten Städte Kubas. Matanzas war reich im 18. und 19. Jahrhundert. Zuerst durch den Tabak und später durch den Zucker." Teilweise prächtige alte Häuser, umgeben von üppigen Gärten, säumen die Straße. "Der Name kommt daher, weil hier die Spanier ihre größten Blutbäder veranstaltet haben. Wie viele Indianer liegen unter dieser Erde begraben..." (span. matanza: Blutbad, Gemetzel). Nach Matanzas führt die Straße ins Landesinnere, hinein in das Grün der üppigen Palmenhaine. "Wenn wir wieder an der Küste sind, können wir anfangen, zu suchen. Dort kenne ich einige Leute, die vermieten." Leider sind all diese Plätze schon ausgebucht. Alberto wischt sich den Schweiß von der Stirn, öffnet die Autotür und ruft einem vorbeiradelnden alten Mann zu: "Alter, kennst Du hier irgend jemand, der vermietet? Eine casa particular, Du weißt schon?" Der alte Mann steigt ab und lehnt sich an sein Fahrrad. "Ich kenne nur das Haus von Oswaldo, ist nicht mehr weit, bei El Peñón del Fraile. Da findest Du Oswaldo. Bieg' nach rechts ein! El Fraile und dort nach rechts, hörst Du?" "Gracias".

Oswaldo und seine Frau Zoila sitzen uns auf dem Sofa gegenüber. Sie stellen sich vor als die Großeltern einer großen Familie, die wir mit der Zeit schon kennenlernen würden. Der hagere Oswaldo hält sich eher im Hintergrund, während die temperamentvolle kleine Frau, deren Lebenskraft noch immer aus den schwarz blitzenden Augen sprüht, ohne Unterlass redet. "Wie schön, dass ihr uns gefunden habt! Dies ist unser Häuschen, das wir an Touristen vermieten, hier findet ihr alles, was ihr braucht. Küche, Bad, wenn ihr ausruhen wollt, setzt Euch vors Haus oder kommt zu uns ‚rüber in den Hof zum Dominospielen oder zum Unterhalten, ein paar Meter weiter ist das Meer, wir haben Felsküste, aber zwischendrin findet man immer Stellen mit Sandstrand. Wir wohnen gleich nebenan, wir können für Euch kochen, ihr zahlt uns dafür ein paar Dollar, wenn ihr selber einkauft, kostet es weniger. Wir machen Euch Frühstück, Kaffee, kochen Euch mittags oder abends, ganz wie ihr wollt." Sie zeigt uns die Räume des Häuschens, klein aber fein mit bröckeligem Charme. "Ich weiß, hier fällt überall der Putz ab und gestrichen müßte auch mal wieder werden, aber uns fehlen die Mittel. Die Kühlschranktüre geht nicht richtig zu, man muss sie ganz langsam mit leichtem Druck von oben schließen. Und wenn der Wasserdruck für die Dusche zu schwach wird, sagt uns Bescheid!" Alles in allem, sala, Bad, Küche und zwei Zimmer koste 25 Dollar. Oswaldo fragt nach unseren Pässen, denn morgen früh müsse er unsere Namen und Paßnummern registrieren lassen. "Wenn man nicht gleich hingeht, kann das eine Strafe von bis zu 1500 Dollars bedeuten." Oswaldo markiert mit dem Zeigefinger seine Köpfung. "Und das wäre unser Ende!"

Wir machen einen Abendspaziergang am Meer entlang. El Fraile ist ein winziger Ort an der Nordküste, zwei Häuserzeilen zwischen der Carretera und dem Meer. Ein Ort am Ende der Welt. Die Menschen sitzen zu dieser Stunde vor ihren Häusern in der Abendsonne, die den dunstigen Himmel im Westen in orangefarbenes Licht taucht. Das letzte Haus an der Sandstraße, der hiesigen Uferpromenade, ist ein ausrangierter blauer Bus ohne Räder, in dem eine Familie wohnt. Die Mutter sitzt in der Eingangstüre und stillt ein Baby. Einige Kinder strecken ihre Köpfe durch die Busfenster und winken uns zu. Vor dem Bus liegt eine dicke schwarze Sau im Schlamm und grunzt genüßlich. Sie scheint ihr Dasein zu genießen, und gebärdet sich wie eine alte Diva. Die Strandpromenade verliert sich im Nichts und wir suchen unseren Weg weiter durch Büsche, über die scharfen Kanten spitzer Felsen, zwischen denen man, je weiter man sich vom Dorf entfernen, immer mehr Schmutz und Abfall findet, hier der Schädel einer Kuh, dort ein paar Knochen, leere Cristal-Bierdosen, kaputte Schuhe, tote Krebse, Muscheln, Glasscherben, Kabel. Dann erblicken wir das Felsgebilde, das an den schiefen Turm von Pisa erinnert, El Peñón del Fraile. Der abbröckelnde Felskoloss des Fraile (Mönch), der dem Ort seinen Namen gab, war einmal ein wichtiger Orientierungspunkt für Seeräuber. Über uns kreisen Truthahngeier, die tatsächlich aussehen, als sei ihr Vater ein Geier und ihre Mutter eine Pute gewesen. Seelenruhig ziehen diese Vögel mit rotem Kopf und schwarzen, weit ausgebreiteten Flügeln ihre Kreise über dem Felskoloss, manche suchen nach Essbarem zwischen all den Abfallresten, und wieder andere sitzen irgendwo in der Nähe auf einem hölzernen Elektromast wie Kontrolleure, denen von dieser exponierten Stelle aus nichts zu entgehen scheint. "Es lebe der 26. Juli, es lebe die Revolution" steht mit roter Farbe an einen Baumstamm geschrieben. Ein paar Leute baden noch im Abendlicht, zwischen Algen am Meeresrand. Langsam verdunkelt sich der Himmel und wir finden im lilagrauen Zwielicht unseren Weg nach Hause.

Unser Haus wird tatsächlich sehr schnell ein Zuhause. Es dauert nicht lange und wir lernen ein Familienmitglied nach dem anderen kennen. Jeder kommt, sich vorzustellen und uns zu beschnuppern. Schon am zweiten Abend sitzt die ganze Großfamilie mit uns vor dem Haus. Oswaldo und Zoila haben zwei Töchter: Nieve und Tania (die mit Miguel zusammenlebt), und zwei Söhne: Oswaldo, verheiratet mit Maria, und Raúl mit seiner Frau Raissa. Maria Regla, Raulito, Oswaldo, Marianela, Fredy, Graciela, Luisito, Fernandito, Tamara, Andy und Janet sind die Enkelkinder. Jeder möchte eine Geschichte zum Besten geben. Ja, da gab es dieses junge schwule Pärchen aus Deutschland, Emil und Gregory, die auf Zoilas Bett Trampolin gesprungen sind, und die schwedische Familie, die der Familie eine Waschmaschine geschenkt hat, und die beiden englischen muchachas, die auf der Isla de la Juventud beklaut worden waren und die Zoila bis zu ihrem Rückflug nach England durchfütterte und die später als Dank ein Paket mit wunderschönen englischen T-Shirts geschickt haben, und der dicke alte Kanadier, der hier mit einer blutjungen jinetera (Mädchen, die sich ihr Leben auf der Straße verdienen) eine Woche verbrachte. Lustige und traurige Geschichten. "Letzte Woche wurde ein Nachbar vom Blitz getroffen", erzählt der alte Oswaldo. "Darum hören wir jetzt für eine Weile keine Musik mehr. Dieser muchacho war erst 17 Jahre alt und wollte im nächsten Monat heiraten. Er war an einem frühen Abend mit seiner novia am Strand und ist nicht rechtzeitig aus dem Wasser gestiegen, als ein Gewitter aufzog. Ein Blitz fuhr in seinen Kopf und durch seinen Körper. Die Silberkette, die er trug, hat sich tief in seine Haut eingebrannt. Die Ärzte stellten später fest, dass alle Organe im Bauch geschmolzen waren..."

Bald erfahren wir mehr von den Sorgen und Nöten unserer Familie. Einfach wird den Privatvermietern der Zugang zu dieser lukrativen Nebeneinnahme in Dollars nicht gemacht. Für rund 50 Dollars bekommt man einen Aufkleber an die Türe, mit dem man als Arrendador Inscripto legal vermieten kann. Damit geht es aber erst einmal los, denn ab der Legalisierung muß z.B. Oswaldo 220 Dollar monatlich an Steuern zahlen. Egal ob er Gäste hat oder nicht. Und das ist noch nicht alles. Hat irgendjemand die Adresse an Touristen empfohlen, so hat dieser Irgendjemand das Recht auf 5 Dollar für jeden Tag, den der Tourist bezahlt. Das sei so üblich hier, heißt es. Auch der alte Mann mit dem Fahrrad würde bald kommen, um sich seinen Anteil zu holen - nur dafür, daß er uns Oswaldo's Adresse verraten hat. Gewinn zu machen, ist sehr schwierig. Denn Touristen verirren sich nicht oft und vor allem nicht regelmäßig in dieses kleine Haus am Ende der Welt. "Wenn zumindest jeden Monat zwei Wochen jemand da wäre, dann würden uns ein paar Dollars bleiben," meint Zoila. "Man kriegt ja kaum mehr etwas für Pesos. Schau, bald fängt die Schule wieder an, und alle Kinder brauchen Schuhe. Mit was soll ich die zahlen? Wenn ich Geld habe, behalte ich nie etwas für mich, ich gebe alles für meine Enkelkinder aus."

Ich ziehe mich für eine Weile zurück, um siesta zu halten. Der Ventilator säuselt warme Luft zu mir herüber und sein sanftes, wellengleiches Gebrumme lässt mich in den Schlaf fallen. Ich träume vom Meer. Irgendwann höre ich einen lauten Knall über mir, der mich aus den tiefsten Tiefen des Ozeans hochschrecken lässt. Ist ein Baum auf das Hausdach gestürzt, oder ist das ein Erdbeben? Blitzschnell renne ich vor die Türe und sehe dort zwei schwarze Mädchen in aller Ruhe vor dem Haus sitzen. Paula und Marleni sind die Töchter einer Besucherin, die gerade bei der Familie zu tun hat. Der Knall sei nichts besonderes gewesen, sagen sie. Ich solle mir keine Sorgen machen. Kurze Zeit darauf steigt ihre Mutter mit Raúl und Raissa die Treppe von unserem Hausdach herunter. Diese wunderschöne ältere Frau, gekleidet in Blau, mit einer blauen Perlenkette um den Hals, stellt sich vor. Sie heißt Ramona, ist eine Tochter von Yemayá, der Meeresgöttin, und Babalaopriesterin. Man hatte sie wegen eines Problems hierher gerufen und dafür hat sie obí, die Kokosnuss, befragt. Das sei der laute Knall gewesen. In dem Bild, das die in Stücke zerfallene Kokosnuss auf dem Hausdach malte, habe sie die Antwort auf die Frage gesehen. Auch die notwendigen Opfergaben. Raissa und Raúl sehen zufrieden aus, als sei ihnen ein Riesenstein vom Herzen gefallen. "Ich bin jetzt fertig und werde mich verabschieden", sagt Ramona. "Davor möchte ich noch einmal ans Meer gehen, die Göttin zu begrüßen. Wenn jemand mitkommen will, gerne ....." Wir gehen die 50 Meter zum Meer hinunter, stehen auf spitzen Felsen. Ramona lächelt entrückt. Der wässrige Blick ihrer tiefbraunen Augen verliert sich in der Ferne. "Qué bella es! Wie schön sie ist!" Ramona stimmt einen Gesang in Yoruba (die alte Sprache des Yoruba-Volkes in Westafrika) ein, taucht ihre Arme in ein kleines, vom Meer geschaffenes Wasserbecken und streicht mit nassen Händen ihren Körper ab, vom Kopf beginnend, bis zu den Füßen. Sie bittet Yemayá um Gesundheit und Glück.

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Stand: 15. May 2002
 

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