Chile - Caleta Tortel - Región de Aisén |
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Caleta Tortel an der Carretera Austral im Süden Chiles | |||||
von Susanne Asal | |||||
CariLat.de 8/2012 Es war einmal eine kleine runde Bucht, über der staffelten
sich Tausende von Zypressen in die Höhe. Klares Fjordwasser plätscherte an den Strand, Anden-Ibisse kreischten ihr Tack-Tack,
Gletscher glitzerten in der Sonne, Fuchsienbüsche, wilder Rhabarber und Farne wuchsen himmelhoch. Rein gar nichts störte die
Einsamkeit. Diese kleine Bucht lag zwischen zwei riesigen Gletscherfeldern tief im Süden des Landes, dort, wo sich ein
Labyrinth aus zersplitterten Inselchen aus dem Meer erhebt. Und dann schrieb man das Jahr 1904. Die Regierung vergab damals mit Handkuss Stücke aus diesem südlichen Land, das Tausende von Kilometern ungeschützter Grenze aufwies, über weite Strecken ziemlich unzugänglich war und das sie selbst mit eigenen Mitteln nicht zu besiedeln und zu nutzen wusste. Gerade einmal eine Handvoll Seefahrer waren nach der ersten Sichtung 1552 in diese Region gelangt und haben sie gleich wieder verlassen. Wer sollte, wer wollte hier leben? Ein Geschäftsmann in Chile musste um diese Zeit ein waghalsiger Pionier, ein konditionsstarker Visionär und ein brutaler Ausbeuter sein und gute Kontakte zur Regierung pflegen. Und das waren Mauricio Braun, William Norris und Ciriaco Álvarez zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Sie hatten nicht vor, in der Bucht zu leben, sie wollten das Zypressenholz schlagen lassen, das sich im Norden und auch in Europa für teures Geld gut verkaufen ließ. Dort stellte man daraus Eisenbahnschwellen her. Arbeiter suchte man auf der Insel Chiloé und in der Bucht – dem heutigen Caleta Tortel - ankerten bald Handelsboote. |
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Der Zypressenkönig wurde reich, sonst niemand |
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Die Geschichte sollte Ciriaco
Álvarez zum Zypressenkönig adeln, dem Rey del Ciprés. Was in seinem entlegenen und nur mit dem Schiff zu erreichenden Reich allerdings wirklich
passierte, fütterte die Gerüchteküche. Hunderte Arbeiter waren innerhalb einer kürzesten Frist gestorben, laut offizieller Version an Vitaminmangel.
Alle auf einen Schlag? Die Zweifel regten sich. Der Zypressenkönig habe sie vergiftet, flüsterte man sich zu, um ihren Lohn einzustreichen. Verscharrt
seien sie auf der Isla de los Muertos, der >Toteninsel<. |
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Schwingende Holzstege, abschüssige Wege |
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Ja, einzigartig ist es. Man schreitet durch eine hölzerne Eingangspforte, und schon schmiegen sich die Zypressenhäuser an den steilen grünen Abhang wie Kätzchen an das Sofakissen. Wenn der Regen des chilenischen Südens auf sie niederprasselt, dann scheinen sie im Nebel zu schwimmen. Schwingende Holzstege und Treppen führen zwischen Lorbeerbäumen, Hagebuttenhecken und Margaritenbüschen hinunter ans Wasser. Straßen wird man in dem Dörfchen vergeblich suchen, dafür ist es viel zu abschüssig. Stege umrunden die beiden Buchten in mehreren Linien. Wir landen an dem Sandstrand der tortelinos, wie sich die Bewohner von Caleta Tortel nennen. |
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Einfach nur ins Blaue kocht keine Restaurantköchin in Caleta Tortel. Denn die Ressourcen sind knapp. Salat, Gurken, Koriander, Stachelbeeren und Tomaten
gedeihen in den aus Plastik gebauten eigenen Wintergärten prächtig, Fische und Meeresfrüchte holt man aus dem Meer, Hühner laufen zwischen den Häusern
im Klee herum, Brot wird selbst gebacken, alles weitere kommt über Land oder das Meer, Shampoo, Radios, Geschenkpapier, Feuerzeuge, Erbsen, Reis,
Fleisch, Nudeln, Öl, Barbiepuppen. Den langwierigen Transport nach Caleta Tortel übernimmt der Staat. |
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Ballantine’s mit Eis vom Eisberg |
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Am nächsten Morgen: Absätze klackern auf den Holzstegen, Rufe hallen über die
Treppen. Es gibt ein einziges Telefon im Ort, und das ist das öffentliche. Bibiana bedient das Funkradio in einem blau
gestrichenen Haus, das zwischen der Plaza de Armas und dem Privathaus des Bürgermeisters klemmt, und kein Anruf bleibt
ungehört. Wenn jemand nicht in seinem Haus sitzt, um ein Telefonat entgegen zu nehmen, dann informiert ihn die Schar der
Nachbarn, wo immer sie ihn findet. Grüße und Flüche schnellen zwischen den Häusern hin und her. Pünktlich ab halb zehn
beschallt die Stadtverwaltung den Hauptplatz mit den neuesten chilenischen Hits. Caleta Tortel, der Antarktis so nah, hat
eine umwerfende italienische Ausstrahlung. Delfin schleppt einen Grill und Holzkohle aus seinem Touristikinformationsbüro am Anlegeplatz, in dem er auch Kinofilme zeigt, dazu zwei Armvoll dunkelrotes Rindfleisch, ein Huhn und geräucherte Schweinerippen. Julio und Don José spendieren eine Flasche Ballantine`s. Die leeren wir später mit Eis vom Eisberg. Wir beladen die >Santa Bernadita< von Don Tato, einer Fähre mit Erfahrung, was die abgeschabte Farbe nahe legt. Die Frauen bringen Tee und Kaffee, der Hawaiianer Bier. Auch ein Baby darf mit. Dann geht’s in den Fjord. |
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Angesichts der Millionen verbrannter Zypressenstümpfe, die aus den Bergen
heraus ragen, beweist unser Gastgeber José Miguel seine Qualitäten. Dies seien ausschließlich Spuren der schlimmen
Verwüstungen der ersten Siedler, die den dichten Wäldern Herr zu werden versuchten und die Feuer nicht einzudämmen
vermochten. Heute sei der Holzschlag wegen der Erosionsgefahr nur an >toten< Bäumen erlaubt. Sagt er. Während Don Tato auf dem eiskalten Fjordwasser der Mündung des Río Vagabundo entgegen schippert, die ehemaligen Bootsroute nach Caleta Tortel, wirft Delfin mit geübten Gesten Hefetaschen in das siedende Öl. Früher sei er diese Strecke mit seinem Vater gerudert, dafür brauchte man dann vier Stunden. In der Ferne schimmert die blauweiße Wand des Montt-Gletschers. Vorsichtig bahnt sich Don Tato einen Weg zwischen schimmernden Eisbergen, die zu Hunderten über der Wasseroberfläche schweben. Wir stoppen an einem Eisstück so groß wie ein Zweifamilienhaus, und José Miguel holt Eisbrocken an Deck, später für den Whisky on the rocks. Schwiegermutter, Baby und Gattin werden fürs Erinnerungsfoto ebenfalls auf den Eisberg gehievt, wir springen hingerissen auch alle rüber, wozu Sicherheitsvorkehrungen, wir sind mit tortelinos und nicht mit einem Reiseveranstalter unterwegs. |
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Eisstück so groß wie ein Zweifamilienhaus | |||||
Von der Armutsbekämpfung zum Tourismus |
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Das Dorf hat einen rasanten Wandel durchgemacht. Vor 20 Jahren gab
es nichts. Kein elektrisches Licht, kein Telefon, kein Trinkwasser, nur eine vernachlässigte Schule, keine kommunale
Struktur. Das Großstadtkind Marcela aus Santiago kam vor 15 Jahren und arbeitete für ein Programm zur Bekämpfung der Armut,
das unter anderem von der deutschen Botschaft finanziert wurde. In Caleta Tortel hatten damals über 70 Prozent der Häuser
keine Toilette, die Einwohner >gingen in den Berg<. Die Pflanzen, die man zum Überwintern in das Haus holte, erfroren, weil
sich nicht alle Bewohner einen Holzofen leisten konnten. Über Nacht wuchsen der Küchenspüle dafür Eiszapfen, und Marcela
wollte damals nur noch eines: wieder weg. Heute stellt die Gemeindeverwaltung ein Drittel der Arbeitsplätze, es gibt eine
große Turnhalle oben auf dem Parkplatz und ein großes neues Schulgebäude. Der Tourismus hat Caleta Tortel aus seinem Dornröschenschlaf aufgestöbert. Es ist zur zona típica und zum nationalen Monument deklariert worden, was unter anderem bedeutet, dass zukünftige Bauwerke den architektonischen Stil des Dorfes beibehalten müssen. Die Region ist mit den Gletschern Montt und Steffen außerordentlich attraktiv. Wanderwege fädeln sich durch die Wälder, die durch Lehrpfade bereichert werden sollen: Schließlich büffeln die kleinen tortelinos nicht umsonst Umweltthemen in der Schule. Es wird aufwärts gehen, ohne Zweifel. Wir wünschen dem Dorf alles Gute, so bezaubernd und freundlich wie es ist. Wir hoffen alle, dass Don José und Delfin, Don Tato, Doña Carlota, Melissa, Gerardo, Bibiana, Ivonne, Julio, Gonzalo und sein kleiner Bruder Isaac diejenigen sein werden, die ihren eigenen sanften Weg in den Tourismus finden. Dass nicht Investoren aus dem fernen Santiago sich diese eisige Perle mit seiner wundersamen Geschichte unter den Nagel reißen. Und dass sie eines Nachts nicht die Türen verschließen aus Angst vor den Fremden, die im Ort herumstreichen. Es wäre wunderbar, wenn dies kein frommer Wunsch bliebe. |
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Caleta Tortel, die Stadt der Stege, mit ihren siebeneinhalb
Kilometern an Plattformen, Brücken und aus Zypressenholz gefertigten Treppen. Sie verbinden die verschiedenen Plätze des
Ortes. Für seine alte Bauweise und seinen traditionellen Lebensstil erhielt er die Auszeichnung „Zona típica". |
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Copyright © Text: Susanne Asal, © Fotos: Encargada Unidad Turismo - www.visitetortel.cl Alle Angaben nach bestem
Wissen, aber ohne Gewähr
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