Ein
sanfter Nordost bläht die Segel, leise gurgelt das Wasser unterm Bug, und die
Küste vor uns wird immer grüner, immer steiler, je weiter südlich wir kommen.
Wir steuern geradewegs auf die
Silhouetten zweier Vulkane zu. Bald wölben sie sich vor uns in ihrer ganzen
Größe: jeder fast 800 Meter hoch, mit mächtigen moosgrünen Flanken unter
lange erloschenen Gipfeln und so ebenmäßig geformt, wie es nur fließende Lava
vermag. Es sind St. Lucias Wahrzeichen, der Petit und der Gros Piton.
In ihrem Rücken dampft Schwefel aus
einem eingestürzten Vulkankrater, und in der Bucht zu ihren Füßen breitet
sich Soufriere aus, ein typisches tropisches Kolonialstädtchen, die ehemalige
Inselhauptstadt aus französischer Zeit.
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Ein Spaziergang
mit dem Literatur-
Nobelpreisträger Derek Walcott:
In seinen Erzählungen spiegelt
sich der Alltag der Dörfer wider,
in denen es noch kaum Touristen gibt.
© Foto: Maggie Steber |
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Ihr Bild prägen Holzhäuser mit luftigen
Veranden, über den Dächern verkabelt mit hängenden Stromleitungen und
beschattet von Palmen. Am Rand der Bucht verdichten sie sich zu einem Hain über
ärmlichen Fischerhäuschen, vor denen die Frauen über offenem Feuer kochen,
Netze zum Trocknen gespannt sind und Boote zwischen Land und Wasser liegen,
deren bunte Farben längst dem Salzwasser zum Fraß fielen.
Das malerische Ensemble hat viele angelockt. Vor uns schwimmt das weiße Club
Med-Schiff, kreuzen Segler, ankern Yachten mit den verschiedensten Flaggen, und
drehen mit Touristen besetzte Motorboote ihre Kreise. In den Hotels der
umliegenden Hänge sitzen Urlauber auf Bungalow-Terrassen, die um den besten
Blick auf die Pitons wetteifern, und zahlen stolze Übernachtungspreise.
Der
Blick auf die Pitons gilt als exklusivster unter dem Antillenhimmel, und diesen
beiden Bergen hat St. Lucia auch den Ruf der schönsten Insel der Karibik zu
verdanken. Mit ihrer Form und der paarigen Anordnung erfüllen sie die Träume
von einer tropischen Mutter Urnatur. Der berühmteste Einheimische, der Literatur-Nobelpreisträger
Derek Walcott, nannte sie deshalb den »Busen der Karibik«.
Der Mann wohnt am nördlichen Ende
St. Lucias, wo früher die Engländer residierten, wenn sie den Franzosen wieder
einmal die Insel abgenommen hatten. 14mal wechselte St. Lucia die Flaggen beider
Nationen, bevor es 1979 unabhängig von England wurde. Die häufigen Änderungen
konzentrierten sich auf eine vergleichsweise kurze Kolonialzeit, denn bis 1660
hatten die hier ansässigen Kariben noch jeden Fremden vertrieben oder ermordet.
Der flachere Norden ist mit seinen
Strandbuchten, Hotels, dem Yachthafen von Rodney Bay und dem ehemaligen
Gouverneurssitz Castries der zivilisiertere Inselteil. Die Stadt an der
Hafenbucht zwischen den Hügeln kann sich heute Landes-Metropole nennen. Mit nur
54 000 Einwohnern ist sie eine der kleinsten der Welt in einem der kleinsten
Staaten, denn St. Lucia misst nur 616 Quadratkilometer.
Groß genug, um mit Derek Walcott
bereits den zweiten Nobelpreisträger nach Sir W. Arthur Lewis hervorzubringen,
der 1979 den Nobelpreis für Wirtschafts- wissenschaften bekam. Walcott erhielt
seine Auszeichnung 1992, worauf man den »Columbus Square« in »Derek Walcott
Square« umbenannte. Eine Ehre, die ihm nicht zuletzt deshalb zuteil wurde, weil
er in seinem Werk die Kolonialzeit endgültig zu den Akten legte. Er rief seine
eigene »Neue Welt« aus, die seinen Landsleuten eine neue Identität gibt.
Die Inselwelt der Antillen sieht er als Wiege einer völkerverbindenden Kultur, deren
Menschen den Ballast ihrer Geschichte jetzt erst abwerfen, Sklaverei und Rassismus
begraben und in der demokratischen Freiheit ihrer neuen Heimatländer endlich zu
sich finden.
Die
frühere innere Unsicherheit durch Entwurzelung, Vermischung und Diskriminierung
drückte der Enkel eines Holländers und Sohn von Mulatten in einem Wort über
sich selbst aus: »Ein roter Nigger, der lieben das Meer / Bin ich, mit echt
kolonialem Diplom,
/ halb Holländisch, Nigger und Englisch in mir / bin entweder
niemand oder eine Nation.«
St. Lucia mit seiner vulkanischen
Urnatur ist für Walcott das Maß aller Dinge, Quell seiner Sprachbilder,
seiner Philosophie. »Palmen sind größer als Versailles«, sagt er, »denn
kein Mensch machte sie.« Die Natur ist sein Heilmittel. Sie kuriert die
Einheimischen von den Wunden der Vergangenheit und die Touristen vom Zivilisationsstress.
Mit nur 148 000 Einwohnern ist St. Lucia so dünn besiedelt, dass das tropische
Grün stets nah ist, gleich, ob man sich in der Stadt, im Luxushotel oder im
Fischerdorf aufhält.
Geschützter Regenwald bedeckt den
Mount Gimmie in der Inselmitte. In den Seitentälern wuchern Farne, exotische
Blumen und wilde Ableger tropischer Bäume zwischen den Brotfrucht- und
Mangobaum-Gärten der Einheimischen. In den Senken wogt sattes Grün als Meer
von Bananenblättern.
Zwischen April und November bringt
der Nordost täglich Wolken, »an den Rändern gewellt wie verbranntes Papier«,
die in kurzen Güssen abregnen. Wenn die starke tropische Sonne dann auf das
tropfnasse Grün fällt, leuchtet es neben satten roten Ginger-Lilly- und
Helikonien-Blüten in den Farben des Regenbogens, und so manche Pflanze scheint
»angekettet im eigenen Tau«.
Die
üppige Vegetation auf St. Lucia, die Walcott viele Vergleiche für seine Poesie
lieferte, hüllt die ganze Insel in eine sinnliche feuchtwarme Atmosphäre. Man
kann sie sogar in All-lndusive-Luxushotels genießen, ohne diese zu verlassen.
Dicke, frischgeschnittene
Blumensträuße wärmen das kühlelegante Marmor-Design so mancher Lobby. Die
einheimischen Angestellten, Frauen oder Männer mit einem Lächeln »wie das
ganze Land« verbreiten dazu ein warmes menschliches Klima. St. Lucia lockt
Leute an, die kontemplative Entspannung suchen. Segler, die in ihren Buchten
oder den Yachthäfen ankern, Golfer, die diskrete Abgeschiedenheit und den
englisch gepflegten Rasen des Platzes im Norden schätzen. Oder Prominente, die
sich von einem Leben im Scheinwerferlicht mit dem Blick, auf die Pitons erholen
wollen.
Dass
sich auf die lnsel keine Billigtouristen mit Bock auf trunkenen Ausrast-Urlaub
verirren, dafür sorgen schon das Preisniveau der Hotellerie und die fehlende
Amüsiermeile. Nur einmal in der Woche, immer am Freitag-Abend, findet ein
Straßenfest in Gros-Islet statt. Fast jedes der alten Holzhäuser verwandelt
sich dann in eine Bier- und Rum-Bar. In der Luft hängt der Duft von gegrillten Fischen
und Hähnchenkeulen, die Ohren werden von dröhnenden Soca- und Reggae-Rhythmen
betäubt.
An normalen Tagen lebt Gros-Islet im
bedächtigen Tempo der Karibik. In Hausschuhen oder barfuss schlurfen die Frauen
zum Dorfwasserhahn, und Zebe, der Rasta, stutzt die Marihuana-Pflanzen im
Hinterhof seiner Hütte. »Ich liebe dieses Dorf«, sagt Derek Walcott während
wir mit ihm an den wellblechgedeckten Uferhäuschen vorbeischlendern. Sichtlich
glücklich über seine kürzliche Rückkehr aus dem jahrelangen beruflich
bedingten »Exil« in den USA, durchschreitet er es langsam wie ein Gespinst von
Erinnerungen.
Mit seinen »Erzählungen von den
Inseln« kann man sich wunderbar in St. Lucia vertiefen. Die Lektüre seines
Gedichts »Saint Lucie« beispielsweise erschließt den Alltag von »sonnengebleichten
Dörfern« wie von Anse la Raye an der neuen Straße von Castries nach Soufriere.
In Anse la Raye gibt es noch kein
Hotel, aber Tavernen am Fischerhafen, wo die Bevölkerung sich zu Festen trifft.
Die Bewohner sind untereinander alle verschwippt und verschwägert und sprechen
besser Patois als Englisch. Sonntags sitzen sie wie eine große Familie in der
Kirche, deren Schutzwall sie mit Szenen aus der Dorfgeschichte bemalten, weil
sie so stets für alle »nachlesbar« ist.
Wie
leben die Menschen dort? Walcott erzählt von langen Sonntagen und einer Melancholie.
»Irgend etwas fehlt immer, was den Tag rund gemacht hätte.«
Rund macht ihn die Phantasie, die
sich in der Langsamkeit des Daseins wie von selbst einstellt. Es ist die Muße
der Armut und Isolation, die dem Wohlstandsbürger verlorenging. Walcott, recht
wohl-habend heimgekehrt, versucht sie nun in seinem neuen Haus am Becune Point
wiederzufinden.
»Sein oder Nichtsein«, begrüßt
ihn im Dorf ein Rasta mit dem Shakespeare-Zitat und bietet ihm eine aufgeschlagene
Kokosnuss an. Walcott trinkt die Milch mit einem Genuss, als sei es Champagner.
Dann läuft er runter zum Strand, springt übermütig ins Wasser und schwimmt
eine kleine Strecke im Schmetterlingsstil mit einem Dorfjungen um die Wette.
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