Der Hass weicht Toleranz und Einsicht

In Guatemala vollzieht sich ein gesellschaftlicher Wandel

Von Gesine Froese

Den Plaza Mayor schmücken gepflegte Beete mit blühenden Blumen, in der Mitte steht ein Springbrunnen, ringsum sind Bänke aufgereiht, die in dieser Vormittagsstunde fast alle besetzt sind. Auf einer übt sich ein junger Blondschopf im Lesen der guatemaltekischen Tageszeitung "Prensa libre", daneben kichern Mädchen in roter Schuluniform, und auf anderen halten Männer ein Nickerchen im Schatten der Parkbäume.

Dies ist ein schönes Bild, das an die Behaglichkeit von Wohnzimmern erinnert - mitten in La Antigua, der alten Metropole Guatemalas, die nach mehreren schweren Erdbeben im 18. Jahrhundert aufgegeben worden ist und heute mit ihren Ruinen, wieder aufgebauten Kirchen, Klöstern und vornehmen kolonialen Wohnhäusern als Unesco-Weltkulturgut einen der touristischen Höhepunkte Guatemalas darstellt. Mitten durch diesen Freiluft-"Raum" spaziert eine Frau. Sie trägt eine indianische Bluse zu einem modischen Rock und balanciert so elegant, wie es nur die "indígenas" können, eine riesige pinkfarbene Einkaufstasche aus Plastik auf dem Kopf.

"Indígena" heißt übersetzt: "Eingeborene", doch meint dieses Wort nicht, wie man glauben könnte, Menschen im Urwald. Vielmehr soll so die Urbevölkerung in Lateinamerika heute im Unterschied zu den Mestizen oder Ladinos (Mischlinge) genannt werden, weil sie das Wort "Indio" als Erbe des historischen Irrtums von Kolumbus angeblich als diskriminierend empfinden. Man erkenne sie, wie es immer noch in vielen Reiseführern heißt, daran, dass sie Tracht trügen, während die Ladinos europäisch gekleidet seien. Dass dies nicht stimmt, ist deutlich zu sehen auf der steilen Straße, die vom malerischen, vor drei Vulkanen gelegenen Atilán-See hinauf nach Sololá führt, das hoch über dem Wasser liegt. In der kleinen Provinzstadt und in den Dörfern der Umgebung leben heute die Nachfahren der Kakquicheles, über die Guatemalas Konquistador Pedro Alvarado seinen Sieg am Tag der heiligen Santiago errungen hat. Vor Jahren noch hatte eine Reiseleiterin gesagt: "Indios gehen gerne zu Fuß, weil sie den Kontakt zur Mutter Erde lieben." Hier aber saust einer nach dem anderen auf dem Rennrad vorbei: in den gestreiften Hosen der Dorftracht, aber auch in Jeans und T-Shirt mit dem Aufdruck einer amerikanischen Universität. Zugleich räumen sie mit dem zweiten Vorurteil, Indios seien scheu, auf, indem sie fröhlich winken.

Um es gleich zu sagen: Natürlich gibt es noch die Indios in Tracht, solche, die zu Fuß gehen, und natürlich viele scheue Vertreter dieser Menschen, die in Guatemala zwei Drittel der Bevölkerung stellen. Mit ihrem Festhalten an den Traditionen ihrer Väter kompensierten sie in der Vergangenheit gewissermaßen den Konflikt mit der Siegermacht Spanien und deren Nachkommen. Und ihre erfinderische Art, trotz der übermächtigen neuen Kultur die eigene indianische nicht zu verlieren, hat sie zur größten Touristenattraktion des Landes werden lassen. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass die "indígenas" im Guatemala von heute andere geworden sind, dass sie nicht mehr in die Schublade der "exotischen Eingeborenen" gesteckt und wie lebendige Denkmäler einer versunkenen Kultur bestaunt werden können. Sie scheinen auf dem besten Weg, Guatemalteken zu werden.

Der Wandel begann nach Jahrzehnten blutiger Militärdiktaturen. Als vor etwa acht Jahren zum ersten Mal wieder internationale Fluggesellschaften ins Land kamen, war dieses zutiefst verwundet. Vor den Dörfern wachten noch Männer in Zivil mit Maschinenpistolen, gedungen vom Militär, um Guerrilleros oder solche, die sich dafür hielten, "abzuwehren", und in den Ruinen von Hotels, die während der militärischen Terrorzeiten von ausländischen Investoren zurückgelassen worden waren, gähnten leere Betonfenster.

Gelitten hatten vor allem die "indígenas", wurden sie doch unter dem Vorwand, Kommunisten zu bekämpfen, vom Militär grausam verfolgt, und dies nicht nur aus politischen, sondern auch aus kulturellen und religiösen Motiven. Es war vielfach der Aufguss eines haßerfüllten Konflikts zwischen zwei Parteien, wie sie unterschiedlicher kaum sein können: zwischen einer streng katholischen und europäisch orientierten Führungsschicht samt einer ihr übermäßig nacheifernden Mischlingsmenge auf der einen und den hartnäckig auf der heidnischen Vergangenheit beharrenden Maya-Nachkommen auf der anderen Seite. Deutlich gemacht hat diese Situation die Quiché-Indianerin Rigoberta Menchú Tum. Sie schrieb: "Ob Religion oder Landverteilung, ob durch Schulen oder durch Bücher, durch Radios oder Fernsehen, man hat uns Fremdes aufzwingen und das Unsrige nehmen wollen." Sie beklagte den harten Kurs der Obrigkeit, die immer noch nach dem alten Spruch von Cortez "Acabar con el alma del indio" - die Seele des Indio auszulöschen - handelte, und sie sagte: "Man hat uns nie die Gelegenheit zum Sprechen gegeben."

Als die ehemalige Widerstandskämpferin, deren Eltern und Bruder unter unvorstellbar grausamer Folter starben, für ihre unerschrockene Haltung im Kolumbus-Jahr 1992 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, hatte dies in einem so verhärteten Land starke Wirkung. Heute kann sie eine Stiftung unter ihrem Namen leiten, die politische Bildungsarbeit für ihr Volk leistet. Der eigene Machtzuwachs durch den Preis hat sie zudem gelehrt, vom Konzept des stillen Widerstands und der Flucht in die Vergangenheit Abstand zu nehmen: "Ich habe gelernt, dass man einen Titel, einen Beruf, ein Konto braucht. Mit dem Gesicht der Armen bekommt man Probleme", sagt sie.

Aber auch der Staat, der auf seinem Weg zur Demokratie mit Argusaugen von Vertretern internationaler Menschenrechts- und Entwicklungshilfe-Organisatoren beobachtet wurde, übte sich zuletzt in völlig neuer Toleranz und Einsicht. Es wurde sogar ein "indígena" als Erziehungsminister ins Kabinett berufen. Es scheint, als seien alle am alten Konflikt beteiligten Gruppen vom ganz harten Konfrontationskurs abgekommen, und mit einem zunehmenden nationalen Bewusstsein wird offenbar auch erkannt, dass gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen kein Beweis für Schwäche sind, sondern die Wirtschaft des Landes stärken können und es gegenüber ausländischen Einflüssen unabhängiger machen. "Demokratie als Wirtschaftsfaktor" war denn auch das Thema des letzten iberoamerikanischen Gipfeltreffens.

Zunächst ist man in Guatemala allerdings noch damit beschäftigt, die Deviseneinnahmen zu steigern - mit Hilfe des Tourismus. Inzwischen sind die Straßen zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten so spiegelglatt asphaltiert, dass der, der es eilig hat, an einem Tag mit dem Wagen von Guatemala-Stadt nach Chichicastenago und zum Atilán-See fahren kann - eine Strecke, für die man früher gut und gerne zwei Tage brauchte, weil der Weg einem Steinbruch glich. Selbst die behäbige Behördenruhe in der staatlichen Tourismuszentrale Inguat ist einer Aufbruchsstimmung gewichen, und es wird von "neuen Touristengebieten" gesprochen.

Gemeint ist damit vor allem das zentrale Hochland zwischen Quetzaltenango und Huehuetenango. Wenn das Friedensabkommen mit den dort noch aktiven Guerrilla-Gruppen hält, werde dieses Gebiet einen unerhörten Aufschwung erleben, meint man. Noch freilich sind Zwischenfälle nicht ausgeschlossen, wie zum Beispiel in San Francisco El Alto an einem sonnigen Markttag im vergangenen November. Äußerlich schien alles unverändert seinen Gang zu nehmen: Die Menschen schoben sich durch die engen Gänge zwischen den Ständen, auf denen vom typischen Strohhut der Männer bis zum Sisalseil, von billigen Haarklemmen bis zu lebenden Hühnern ein buntes Warenangebot ausgebreitet war. Doch die Unruhe war zu spüren. Später klärte sich auf, dass die Guerrilleros ihre Uniformen vor dem Dorf ausgezogen hatten, in das Bürgermeisteramt vorgedrungen waren, um dort eine Erklärung zu verlesen, und dann wieder verschwanden. So harmlos jedoch gehen Konfrontationen trotz der neuen, allgemein entspannteren Stimmung nicht immer aus. Ebenfalls im vergangenen November schossen Regierungssoldaten in einem kleinen entlegenen Dorf Männer, Frauen und Kinder nieder, nachdem diese sie angeblich erst beleidigt hatten und dann auch noch entwaffnen wollten.

Ein solches Massaker ausgerechnet in der Alta Verapaz, dem "Land des wahren Friedens", das sich mehr und mehr zu einem Ziel für Naturliebhaber und Wildwasserfahrer entwickelt, war zweifellos ein empfindlicher Rückschlag. Hier, in einer dünnbesiedelten Region, wurden im Zuge der großangelegten Rückführung der Menschen, die während der Militärdiktatur nach Mexiko geflüchtet waren, neue Dörfer angelegt, und auch schon früher war sie Schauplatz für ein ungewöhnliches Experiment: Dominikanermönche durften ein Reservat gründen, zu dem die weißen Eroberer keinen Zutritt hatten - ein Zugeständnis der spanischen Krone an Pater Bartolomé de Las Casas, der energisch auf einen menschlichen Umgang mit den Indianern drängte.

Cobán ist die liebenswerte kleine Verwaltungsmetropole von Alta Verapaz. Nach der Vertreibung der Dominikanermönche aus Guatemala siedelten hier vor allem Deutsche. Sie legten Kaffeeplantagen an. Anders als die Spanier, die sie als illegale Geliebte hielten, heirateten viele Indianerinnen. "Sie passen eigentlich auch gut zusammen", meint dazu die deutschstämmige Besitzern des Café Tirol in Cobán: "Beide sind sehr arbeitsam." Dennoch mussten die meisten im Zweiten Weltkrieg ihre neue Heimat verlassen. Nur wer jüdischer Abstammung war, durfte bleiben.

In Guatemala gibt es aber auch Gegenden, wo selbst der Blick hinter die Kulissen das neue Ferienvergnügen nicht trübt. Dazu gehört das riesige Flachland des Petén, als ehemaliges Kernland der alten Maya-Kultur übersät mit Ruinenstätten und dazu die grüne Regenwald-Lunge Guatemalas mit dem größten Naturschutzgebiet Mittelamerikas, dem Maya-Biosphären-Reservat. Gut entwickelt hat sich, eine Busstunde südlich von Flores entfernt, das kleine Urwaldnest Sayaxché. Am ortsnahen Lago Petexbatún entstanden verschwiegen gelegene, rustikale Urwald-Feriendomizile. Unterwegs ist man hier wie die alten Maya: per Boot auf den großen Flüssen, um die reiche und noch kaum gestörte Tier- und Vogelwelt und die kaum bekannten Maya-Stätten zu erkunden.

Auch an der Pazifikküste im ehemaligen Hafenort Puerto San José mit seinem breiten feinen schwarzen Vulkanstrand zeichnen sich große Dinge ab: Geplant ist dort eine Ferienanlage mit schiffbaren Kanälen nach dem Vorbild der aus dem Boden gestampften südfranzösischen Touristenzentren. Bereits etabliert hat sich Livingston an der Karibikküste. Dort sind die Strände der Umgebung zwar der Rede nicht wert, dafür begeistert die kleine Oase an der Grenze zu Belize mit dem Punta-Rock und Reggae-Rhythmus der schwarzen Garifuna. Selbst feinen Guatemalteken, die das "gemeine Volk" bisher möglichst mieden, kann man hier jetzt begegnen, denn in diesen Kreisen ist es schick geworden, sich mit den exotischen Kulturen im eigenen Land zu beschäftigen. Und nun haben sie sogar mit dem 49 Jahre alten Alvaro Arzú einen Mann zum Staatspräsidenten gewählt, der Besitzer eines Reisebüros ist und früher Tourismusminister war.


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Stand: 18. Dezember 2012  

 

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