Ein Kapitel Karibik 

Die kolumbianische Küstenstadt Cartagena ist Schauplatz vieler Romane von Gabriel García Márquez und wurde von der Unesco als Weltkulturgut ausgezeichnet

Von Gesine Froese

Die Liebespärchen sind immer da. Mit ihrem sicheren Gefühl für Romantik besetzen sie stets zuerst die besten Plätze. Im Rücken die Karibik und vor Augen die Silhouette der Altstadt, so harren sie des großen Augenblicks, wenn es Nacht wird in Cartagena.

Gegen sieben Uhr abends ist es so weit, der Tageslärm verstummt, und in den Gassen sind nur noch das Trappeln der Kutschpferde, die Chöre der Gläubigen in den Kirchen und das Lachen früher Altstadtbummler zu Hören. Dann flammen die Scheinwerfer auf und setzen Cartagenas Unesco-Weltkulturgut der Menschheit ins rechte Licht.

Spots für die Kirchen Santo Domingo und San Pedro Claver aus dem 16. und 17. Jahrhundert, für die Residenz des Erzbischofs aus dem 18.und den Inquisitionspalast gleich nebenan. Spots für die spanischen Adelspaläste und ihre eisenbeschlagenen Türen, gedrechselten Balkone und Flüsterfenster.

Licht vor allem für die größte Festungsanlage Amerikas: die alles umfassende Mauer mit ihren Türmchen und Festungen, die sie zu beiden Seiten flankieren, wie das mächtige Fort Felipe im Osten und die kleinen Castillos von Bocachica im Westen. Schließlich für die in Bronze gegossenen Helden der Stadt: den Spanier Blas Lezo, 1741 Retter Cartagenas vor den Engländern, und die Indianerin Catalina, heimliche Mutter vieler Cartageñeros. Der eine, einarmig, einbeinig und einäugig, schwenkt ewig kampfbereit den Degen; die andere, Dolmetscherin und Geliebte des Stadtgründers Pedro de Heredia, ziert halbnackt und aufrecht ihren Sockel.

Cartagena de Las Indias, das indianische Cartagena, nannten die Gründer diese Stadt an der kolumbianischen Karibikküste. Ihre Blütezeit erlebte sie vom 16. bis 18.Jahrhundert als wichtigster Gold-, Silber und Smaragdlieferant Spaniens und sein größter Sklavenumschlagplatz in der Karibik.
Gabriel García Márquez, heute ihr berühmtester Wahlbürger, nennt sie die "Keimzelle eines unermesslich großen Vaterlandes". Der Literatur-Nobelpreisträger spielt damit auf die führende Rolle Cartagenas im alten spanischen Kolonialreich an. Nur Havanna mit seinen Schiffswerkstätten, wo sich die Galeonen aus den spanischen Karibik-Anrainern, auch die aus Cartagena, vor ihrer Fahrt nach Sevilla sammelten, konnte sich damals an Bedeutung mit ihr messen.

Die Festungen beider Städte stammen denn auch vom selben Baumeister. Doch nur die von Cartagena, "der Gürtel aus uneinnehmbaren Bastionen, den der spanische König mit seinen Fernrohren von den Ausgucken seines Palastes hatte sehen wollen" (García Márquez), blieb fast unversehrt erhalten.

García Márquez stammt von der Karibikküste, an der Cartagena liegt. Lagunen- und sumpfüberzogen, wird sie von einem schwülheißen Klima beherrscht. Nur vier Autostunden östlich von Cartagena vor den Gebieten der Kogi-, Wayuu-, Guajira-Indios, liegt Aracataca, der Geburtsort des Dichters, ein verstaubtes Nest inmitten von Bananenplantagen. Es diente ihm als Vorbild für sein "Macondo" in dem nobelpreisgekrönten Roman "Hundert Jahre Einsamkeit."

Mittlerweile, nach Jahren wechselnder Wohnorte in Kuba und Mexiko, fand García Márquez seine Muse in Cartagena, wo er schon als junger Mann seine ersten Schreibversuche als Reporter unternommen hatte.

Fast alle seine jüngeren Bücher spielen in dieser Stadt und lassen hinter ihre schöne Fassaden blicken. Dabei ist es unerheblich, ob er vom Cartagena des 18. oder 19.Jahrhunderts erzählt. Denn in dieser Stadt hat die Vergangenheit nie aufgehört, Teil ihres Alltags zu sein.
Das Fünf-Sterne-Hotel "Santa Clara" in der Altstadt wurde in den Mauern des gleichnamigen Klarissinnen-Klosters errichtet, das García Márquez die Idee für das Buch "Von Liebe und anderen Dämonen" lieferte. Im Vorwort erzählt er, wie es dazu kam.
Am 26.Oktober 1949, García Márquez war Reporter des "El Universal" von Cartagena, wurden die Grabkammern des Klosters geräumt. Der Chefredakteur sagte zu ihm: "Geh doch mal vorbei und schau, was dir dazu einfällt."

García Márquez erinnert sich: "Die kostbare Kapelle stand fast ungeschützt da, in den Krypten jedoch lagen immer noch drei Generationen von Bischöfen und Äbtissinnen und anderer vornehmer Leute begraben." In der dritten Nische des Hauptaltars fand der junge Reporter seine "Nachricht": das Grab der jungen Sierva Maria de Todos los Angeles. Als es geöffnet wurde, so erzählt er, sprang eine zwei-und-zwanzig Meter und elf Zentimeter lange Haarflut heraus. "Der Maurermeister erklärte mir unbeeindruckt, dass menschliches Haar einen Zentimeter im Monat wächst, auch noch nach dem Tod."

Der Anblick versetzt den Schriftsteller in das Cartagena vor zweihundert Jahren zurück, in die Zeit, als in der Stadt noch Exorzisten im Dienst der Kirche agierten. Und die kleine Sierva Maria wird für García Márquez zum Häftling des Klosters und Opfer der Exorzisten.

Vom Kloster blieb die Fassade originalgetreu erhalten. Die kargen Zellen wichen Luxuszimmern und die Gruften bedeckt heute die Betondecke des Hotel-Tiefgeschosses. Doch der Inquisitionspalast steht noch fast unverändert, wo die Teufelsaustreibungen stattfanden wie sie die Romanfigur von García Márquez, "die ungeliebte Tochter des Marquis von Casalduero", erleiden musste, weil sie angeblich besessen war.

Prächtiges Barockportal, fürstlich langer Balkon, so beherrscht er heute noch mit der Kathedrale den Plaza Bolívar. Smaragdläden, das Goldmuseum und kühle Arkadengänge rahmen dieses alte Machtzentrum der Stadt, das auch bei García Márquez immer wieder vorkommt. Und nur ein paar Schritte weiter südlich weitet sich die Altstadt zum Plaza de los Coches, dem ehemaligen Sklavenmarkt, "wo gerade eine Ladung Neger versteigert wurde", und der Gouverneur der Stadt eine schöne Mulattin in Gold aufwog, als die kleine Sierva im Roman von García Márquez vom Hund gebissen wird, weshalb sie später zur Besessenen erklärt wird.

Die Inquisitoren waren in Cartagena länger als in Spanien im Amt. Erst am 11. November 1811 wurden sie von den Einwohnern aus der Stadt gejagt und die Archive verbrannt. An diesem Tag hatte sich Cartagena als erste Stadt Lateinamerikas für unabhängig erklärt. Was sie mit einer blutigen Rückeroberung durch spanische Königstruppen büßte. Simon Bolívar, der seine Kämpfer erst acht Jahre später zum endgültigen Sieg über die Spanier führte, nannte sie deshalb "La Heroíca", die Heldenhafte.

Kolumbien feiert den 11. November als Nationalfeiertag. In Cartagena sind dann die Straßen für den Karneval und die blumengeschmückten Wagen mit den Schönsten aus dem ganzen Land reserviert. Und die ganze Nation hängt vor den Fernsehern, um die Wahl der Miss Colombia zu verfolgen.

"Der General in seinem Labyrinth" ist das Buch, das ins Cartagena nach der Unabhängigkeit führt. Durch nichts war es so zerstört worden wie durch den Kampf um die Unabhängigkeit und die anschließende Kriege", erzählt García Márquez darin. "Die reichen Familien aus der Epoche des Goldes waren geflohen" und die ehemaligen Sklaven "einer nutzlosen Freiheit" sich selbst überlassen.
Ein Hauch des Chaos, das die Stadt damals beherrschte, ist ihr bis heute erhalten geblieben. Die alten Treffpunkte der Schwarzen rund um den alten Hafen gleichen Basaren von Überlebenskünstlern, wo man seine Geldbörse besser gut versteckt.

Als Simón Bolívar in Cartagena weilte, war es auch äußerlich heruntergekommen. Nicht zu vergleichen mit den herausgeputzten Fassaden von heute. Das ehemalige Haus des Marquis von Valdehoyos in der Calle La Factoria, dessen Gemahlin, laut García Márquez, "durch Mehlschmuggel und Sklavenhandel zu Geld gekommen war", muss damals eine der letzten feinen Adressen gewesen sein.
 Hier lässt García Márquez den "General" die Worte seufzen, die tief aus seiner eigenen Brust zu kommen scheinen: "Wie teuer haben wir doch diese Scheißunabhängigheit bezahlt."

Wie in viele der ehemaligen Adelspaläste ist auch in dieses Haus inzwischen eine Firma eingezogen, die Werbegemeinschaft Cartagenas. In anderen haben sich Tanz- und Sprachschulen eingerichtet, Notariate, Papier- und Kopierläden, Antiquariate, Restaurants oder Bars.
Auch Stundenhotels gibt es noch dazwischen, wie es Florentino Arizo in dem Buch "Die Liebe in den Zeiten der Cholera" bewohnte. Der Roman spielt im Cartagena Ende des letzten Jahrhunderts, der Zeit nach der Unabhängigkeit, als die vormals mächtigen Familien nur noch "in ehrenhafter Dekadenz" lebten."

Sehr viel anders leben sie bis heute nicht. Ihre ehemaligen Wohnpaläste in der ummauerten Stadt haben sie genau wie der Doktor Juvenal Urbino im Buch zugunsten einer Villa "im Neureichenviertel" La Manga verlassen. Mit seinen maurischen Palästen, Villen mit dorischen Säulen und klimatisierten neuen Apartmenthäusern beim Yachthafen ist es noch das feinste Eiland dieser auf Inseln und Halbinseln verteilten Stadt.

Gabriel García Márquez wohnte lange auf der Halbinsel Bocagrande, die in diesem Jahrhundert La Manga als Neureichenviertel ablöste. Die schmale Landzunge bildet mit der Altstadtinsel "Calamarí" und La Manga die große natürliche Hafenbucht von Cartagena.

An ihrer Karibikseite säumt sie ein langer grauer Strand, der Urlauber aus der ganzen Welt anlockt. Obwohl das Karibikwasser erst weiter draußen, etwa bei den vorgelagerten Islas del Rosario, den Vorstellungen entspricht, die man sich gemeinhin von idyllischer Karibik macht. Apartmenthäuser mit Ferienwohnungen und Hotels haben diese Landzunge in eine touristische Trabantenstadt mit einem für diese konservative Stadt ungewöhnlichen internationalen Flair verwandelt.

In ihrer Anonymität lebte García Márquez. Vormittags spielte er Tennis oder hielt Vorträge in der Journalistenschule, die er gleich neben dem Hotel Santa Clara erbauen ließ, und nachmittags schrieb er. Heute hindert ihn seine schwere Krankheit an derlei Aktivitäten. Nur das Schreiben ließ er nicht. Im Wettlauf mit dem Tod verfasst er seine mehrbändig angelegten Memoiren.

erschienen im stern  ( Fotos hier CariLat ©)


Alle Angaben nach bestem Wissen, aber ohne Gewähr
Copyright © CariLat.  All rights reserved.
Stand: 27. Dezember 2008  

© webDesign by  CariLat