Von Susanne Asal |
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts glich der Hafen von Buenos Aires einem Tollhaus. Lagerschuppen und Kühlhäuser am Río de la Plata barsten förmlich vor den Fleischbergen und den Fellstapeln, die für die Ausfuhr bestimmt waren. Die beißenden Abwässer der Gerbereien und Pökelanlagen mischten sich in die braunen Fluten des Flusses. Und auf unzähligen Schiffen warteten Abertausende von Emigranten darauf, von Bord zu gehen und empfangen zu werden von dem glücksverheißenden Land Argentinien. Zwei allerdings waren darunter,
die nicht vor Hungerkatastrophen oder wirtschaftlichem Elend aus ihrer
Heimat geflohen waren. Ihre Vorstellung von Glück sah auch etwas anders
aus als die der meisten europäischen Einwanderer, die von den
argentinischen Regierungen herbeigewünscht wurden, um beim Besiedeln der
immensen Landfläche zu helfen. Sie hatten nicht vor, zu geben, sondern zu
nehmen. Butch sprach passabel Spanisch, Sundance überhaupt nicht. Das fiel in diesem wuseligen Niemandsland nicht weiter auf. Engländer, Italiener, Spanier, Kroaten, Griechen, Syrer, Schweizer und Deutsche waren vollauf damit beschäftigt, ihre neue Heimat einzurichten. Besitztitel waren noch nicht eingetragen, behördliche Genehmigungen ließen auf sich warten, die Ackerflächen, lotes, waren weder vermessen noch abgesteckt, das versprochene Vieh traf nicht ein. Wer kümmerte sich da um die Vergangenheit seines Nachbarn? Und hier setzt die Geschichte ein, die der ehemalige Fotojournalist und Weltumsegler Clark Stede fast ein Jahrhundert später erzählt. Wir sitzen im chilenischen Puerto Varas auf der anderen Seite der Anden. Es liegt zu Füßen des fulminant schön geformten Vulkans Osorno am Ufer des bodenseegroßen Lago Llanquihue. Puerto Varas ist mit Naturspektakeln so überreich beschenkt, dass es die internationale Outdoorgemeinde schlichtweg liebt. Das ehedem verschlafene, kleine Handelsstädtchen, eine deutsche Gründung mit einigen Steinfassaden und vom Wind und der Feuchtigkeit schief gezogenen Holzhäusern, lebt mit Kontrasten. Altmodische Häkelgardinen wachen über Café-Auslagen mit selbstgemachten Pralinen, landwirtschaftliches Gerät und getrocknete Linsen im Zehn-Kilo-Pack türmen sich in turnhallengroßen, scheunengleichen Läden für Ackerbauern, aber die Sportausstatter >Patagonia< und >Helly Hansen< haben ihre eigenen Vertretungen auf der Hauptstraße eingerichtet und neuerdings gibt es auch eine Casa de Cambio, eine Wechselstube, und ein vegetarisches Restaurant. Hippie-Kunsthandwerker funktionieren die Rasenbeete der malerischen Plaza zur Vitrine für ihre Batikhemdchen und Perlenarmbänder um, und immer kommen gerade irgendwelche begeisterten nordamerikanischen Senioren von einer Ausflugsfahrt um die Ecke gebogen. Die Umgebung von Puerto Varas und dem Llanquihue-See ist ungezügelt schön und sanft zugleich. Der 2652 m hohe Vulkan, der aus dem ältesten Naturschutzgebiet Chiles, dem Parque Nacional Vicente Pérez Rosales, herausragt, hat mit seinen Ausbrüchen die Landschaft geformt, anthrazitgrau schraffierte Lavaströme zwischen die üppigen, feuchten Wälder gesenkt, Betten für Wasserfälle und Flüsse gebildet, die über tausend Verästelungen ihre tiefblauen und strahlend grünen Spuren ziehen. Etwas Einladenderes für Trekking, Mountainbiking, Kayaking und Wildwasser-Rafting lässt sich kaum vorstellen. Doch diesem Reichtum ist seine Vernichtung immanent. Seit Beginn der Militärdiktatur unter Pinochet 1973 wird der Holzeinschlag subventioniert, Flächen von der Größe Bayerns fielen dem Kahlschlag zum Opfer. Die verschwenderische Natur wird zur Herstellung von Faxpapier und Zellulose verschwendet. Flüsse gibt man der Errichtung von Wasserkraftwerken preis. Eines der anmutigen, alten Holzhäuser am Seeufer, Sitz einer Künstlerinitiative, entwickelte sich auch zum Diskussionsforum für Protestaktionen gegen Regierungsprojekte wider den Erhalt der Natur. Und Puerto Varas ist zweifelsohne ein Ort, in dem man noch von der internationalen Solidarität träumen kann. Die von ihren Exkursionen zurückgekehrten Gäste hören gerne zu, haben sie doch gerade davon profitiert, was in Zukunft vielleicht dem Gesetz der wirtschaftlichen Expansion geopfert werden soll. Doch Clark Stede forschte weiter.
Die bereits bekannten Gelände wollte er nicht weiter nutzen. Am
tiefeingeschnittenen Meeresfjord Seno de Reloncaví, der die Schneekrone
des Vulkans Yate widerspiegelt, wurde er fündig. Dort liegt die winzige
Bauernortschaft Cochamó, deren ganzer Schatz aus einer extrem
spitztürmigen Holzkirche besteht und in dem Vorräte für die Ackerbauern
der Umgebung verkauft werden. Umgebung bedeutet hier: Mindestens 200
Kilometer Umkreis. Die liegt nicht weit. Und so
kamen die rechtschaffenen Siedler, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts
auf der argentinischen Seite der Anden niedergelassen hatten, auf die
Idee, ihr Vieh nicht über die endlose Meseta des argentinischen
Patagoniens zu einem der nördlicheren Atlantikhäfen zu treiben, sondern
über die Andenpässe in den wesentlich näher gelegenen Seehafen Puerto
Varas am Lago Llanquihue und von dort ins knapp 15 km entfernte Puerto
Montt am Pazifik. Das kostete vier Tage; die Tour zu den argentinischen
Häfen nahm zwei Monate in Anspruch. Diesen Weg zu nutzen, hatte Clark Stede gereizt. Zusammen mit Eulogio aus Cochamó, der seine Heimat kennt wie seine Westentasche, durchstreifte er acht Monate lang die Gegend, wobei das versammelte Gedächtnis der älteren Einwohner von Cochamó kräftig mithalf. Er fand den Damm. Und er fand Gelände, um darauf ein campamento zu bauen, ein Camp, wie man das übersetzt, aber in diesem Fall ein luxuriöses. Man übernachtet in zweistöckigen Holz-Bungalows, der Koch kann sogar Kuchen backen, und wer seinen Schlafsack vergessen hat, findet einen ausgesucht qualitätsvollen Ersatz vor. Das Camp breitet sich auf einer sorgsam gepflegten, leicht hügeligen Rasenfläche gegenüber dem Ortsrand von Cochamó aus. Ironie im Spiel: Aventura sieht ein bisschen so aus wie eine rustikale Wildwestfilmkulisse. Ein kleiner Flußstrand aus glattgeschliffenen Kieseln verbirgt sich hinter flüsternden Dickichten aus den Bambusstangen der gefiederten quila. Die hell leuchtenden Granitdome der Anden liegen in greifbarer Nähe. Dahinter: Argentinien. Vom Campamento Aventura fädelt sich die Reitwanderroute auf den Spuren der Bankräuber direkt in den Wald. Unzählige Wasserläufe durchfeuchten den schweren, schwarzen Grund. Über uns schließt sich ein schimmernder Teppich aus Blättergewölben. Buntbemalte Bienenkästen blitzen aus den Waldlabyrinthen hervor. 300 verschiedene Pflanzenarten beatmen hier die Luft. Sobald wir durch einen Hain mit arrayanes kommen, sinkt augenblicklich die Temperatur, denn die honigfarbenen, weißgefleckten Stämme strahlen Kühle ab. Die hochgewachsene pitra und der heilige Baum der Mapuche-Indianer, colihue, verweben sich mit der weißblühenden Ulme zu pflanzlichen Zäunen. Moossterne bedecken den weichen, duftenden Waldboden, Farne befühlen die Schultern der Wanderer. Wie Wasserfälle aus Rubinen quellen die leuchtend roten Ampeln der Fuchsien und copihues zwischen den Baumstämmen hervor. Die üblichen hohen Niederschlagsmengen durchweichen den Boden zusätzlich, die Pfade sind hüftschmal. Zögerlich suchen sich die Tiere Trittmöglichkeiten zwischen den Bohlen des Knüppeldamms, unter dem weicher Schlamm lagert. Unvorstellbar, dass dies ein Viehtrail sein soll - aber er ist es. Sobald wir einem arriero, einem chilenischen Cowboy, mit seinen Herden begegnen, verziehen sich die Kühe mit einer ballerinagleichen Behendigkeit in die steil ansteigenden, rutschigen Hänge und mucksen sich nicht. Zwanzig Meter unter uns sprudelt der Rio Cochamó über hellgraue Steine. Vier Stunden brauchen geübte
Reitwanderer für die Strecke, alle anderen etwa sechs. dann ist La Junta
erreicht. Stecknadelkopfgroß erscheint es auf der zerknitterten
Landkarte, die Eulogio vor uns ausbreitet. Was es sonst noch gibt außer
dem zweiten, höher gelegenen Lagerplatz des Campo Aventura, ist typisch
für die Topographie der Einsamkeit in Patagonien: eine Straßenkreuzung,
mehr nicht. Jenseits davon steigt das Gelände an. Eine geräumige, von
Bäumen beschattete Weide bildet den Eingang des Camps, das aus zwei
sorgfältig geplanten Blockhütten und dem Grillplatz fogón besteht. Die
Küche ist das Kräftefeld von La Junta. Blanca zaubert Bleche voller
empanadas und Brotlaibe aus den Tiefen des altmodischen Eisenofens, der
auch als Heizung dient, Clark den Rotwein aus seinem Zimmer. Wir erfahren, dass die Chilenen den Wald mit einer Geschwindigkeit abholzen, der - in Relation zu den brasilianischen Amazonaswäldern gesetzt - diese übertrifft. Chile hat sich mittlerweile den traurigen Rekord verdient, eines der Länder mit den umfangreichsten Plantagenwäldern zu sein. Eukalyptus und Kiefern stehen zur Wiederaufforstung bereit, finden hier aber nicht ihr natürliches Habitat vor, übersäuern den Boden. Kiefern saugen 70 Prozent mehr Feuchtigkeit aus der Erde als die heimischen robles, raulí, mañíos, tepa. Und sie schützen zwar vor den gröbsten Folgen der Erosion, liefern aber nicht dasselbe wertvolle Bauholz wie die heimischen, langsam wachsenden Sorten. Und so ist der Spaziergang nicht nur kurzweilig, sondern auch erhellend. Kaum ein Gast verlässt nach seinem dreitägigen Ausflug unbeeindruckt das Campo Aventura. Angetreten, der abenteuerlichen Viehtreiberroute der Banditen zu folgen, hat man einen weitaus größeren Schatz gehoben: >Wer den chilenischen Wald nicht kennt, kennt unseren Planeten nicht<, hat Pablo Neruda in seinen Lebenserinnerungen geschrieben. Und so ist es auch: Kaum wieder
zurück, begegnet man in den hügeligen Straßen von Puerto Varas
plötzlich lauter Gleichgesinnten und Eingeweihten, egal, ob sie geritten,
den Osorno hochgeradelt oder Wildwasser gefahren sind: Alle hat die Gegend
in Umweltschützer verwandelt. Diese Wälder sind von solcher Kostbarkeit,
dass man sprachlos wird angesichts der Berge aus Holzchips, die im Hafen
von Puerto Montt auf die Exportschiffe warten. Sie wurden
zusammengeschreddert aus Alercen, die 3000 Jahre überlebt hatten, und aus
den wertvollen Bauhölzern des raulí und der tepa, die seit Jahrhunderten
für die Hauskonstruktion benutzt wurden. Mit dem Raubbau an der Natur
geht auch der (Alltags-)Kulturverlust einher: die Kunst des
Schindelschneidens und das Material selbst beispielsweise haben sich so
verteuert, dass nur noch wenige Kunden sie sich leisten können. Butch, Sundance und Etta beendeten 1905 ihr chilenisches Abenteuer, verkauften Haus und Vieh an die Compañía Cochamó und kehrten nach San Francisco zurück. Etta blieb in ihrer Heimat, die beiden bandoleros zogen nach Bolivien. Ihre Identität als Viehfarmer indes haben sie als malerische Fährte quer über die Anden gelegt, dort, wo sie am schönsten und gleichzeitig am bedrohtesten sind. Vielleicht, und das ist die Hoffnung, für die einige fortschrittliche Politiker kämpfen wollen, können die sanfte touristische Nutzung und auch die wachsende internationale Aufmerksamkeit, die sich vor einigen Jahren eingestellt hat, seit Chile sich auf der touristischen Weltkarte wiederfindet, ein wenig von dieser Schönheit retten. |
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INFO-KASTEN: Beste Reisezeit: Die Jahreszeiten auf der Südhalbkugel verhalten sich reziprok zu den mitteleuropäischen; Sommer herrscht dort zwischen Ende November und Mitte März. Im Süden Chiles, wo sich der Nationalpark Pérez Rosales und Cochamó befinden, kann es auch im Sommer zu Regenfällen und frischem Klima kommen. Am wärmsten mit Temperaturen zwischen 25 und 30 Grad: Ende Januar bis Anfang März. Einreise: Ein über das Einreisedatum noch sechs Monate hinaus gültiger Reisepass genügt bei einem Aufenthalt unter 60 Tagen. Im Flugzeug erhält man eine Touristenkarte, die ausgefüllt wird und deren Kopie im Pass verbleibt. Die tarjeta de turismo gilt als Dokument und ist bei der Ausreise wieder abzugeben. Anreise: Santiago wird von vielen europäischen und südamerikanischen Linien angeflogen, z.B. Lan Chile oder Lufthansa. Die Preise richten sich nach der Aufenthaltsdauer. Ein Visit-Chile-Pass von Lan Chile enthält drei Flugcoupons für das Reisen im Land; die Strecken müssen vor Abflug festgelegt sein, Daten können kostenlos umgebucht werden. Zielflughafen für die beschriebene Tour ist Puerto Montt. Von Santiago verkehren auch bequeme Überlandbusse nach Puerto Montt, die Reisedauer beträgt etwa etwa 15 Stunden. Zwischen Puerto Montt und Puerto Varas verkehren häufig Minibusse, die man auf der Straße anhalten kann. Veranstalter:
Agentur Outsider (im gleichnamigen Hotel) Unterkunft: Hotel Colonos del Sur, Del Salvador 24, T.: 0056/65/233369, Fax 232080; ist das Prachthotel von Puerto Varas, Liebling der US-Touristen. Pflegt den gehobenen Alpenstil, mit sehr behaglichen, komfortaben Zimmern und Bädern. Hotel Outsider, San Bernardo 318, T. und Fax 232910, hat nur fünf gemütliche, kleine Zimmer, beliebtes Travellerziel, ebenso wie das angeschlossene Cafe-Restaurant mit Garten. Gehört dem Erfinder der Butch-Cassidy-Route. Hotel Westfalia, La Paz 507, T.: 233039; Fax 233394; deutscher Name, deutsch inspirierte Architektur: weiße Holzschindelvilla mit rotem Giebeldach. Hostal Colores del Sur, Santa Rosa 318, T.: 338588; der preiswerteste Travellertipp mit freundlichen Wirten, lebhafter Atmosphäre, jungem internationalen Sportler-Publikum. Essen und Trinken: Der Pazifik
ist eine einzige Wundertüte voller Meeresfrüchte und Fische. Mies-
Pfahl- Kamm- und Venusmuscheln gibt es in mehreren Varianten, dazu
ostiones (Jakobsmuscheln), ostras (Austern), erizos (Seeigel) und die
teure centolla (Seespinne). In einer paila marina versammeln sich eine
Auswahl davon, mariscal heißt dieses Gericht in der rohen Version. Den
kräftig schmeckenden Eintopf aus Muscheln, Hühnerfleisch, Würsten,
Speck und Kartoffelklößen curanto sollte man sich keinesfalls entgehen
lassen. Sehr schmackhaft ist auch das Lammfleisch. Gesundheit: Für Chile sind keine Impfungen vorgeschrieben. Geld: Der chilenischen Peso wird zur Zeit mit einem Kurs von 480 für einen US-Dollar und 270 für eine DM gerechnet. Wechselstuben befinden sich Flughafengebäude von Santiago und in den Straßen Agustinas und Huérfanos im Zentrum. Wer Traveller-Cheques (am besten: American Express) tauscht, zahlt eine Bearbeitungsgebühr. In Chile kann man nicht überall tauschen. An verschiedenen Banken gibt es Redbanc-Automaten für die Barabhebung mit Karten. Zahlen mit Kreditkarte ist üblich und verbreitet. Literatur: >Ich bekenne, ich habe gelebt<, Pablo Neruda, seine ungewöhnlichen Memoiren. >Die Welt am Ende der Welt<, Luis Sepúlveda, ein packender Öko-Kriminalroman, der im Süden spielt. Reiseführer gibt es aus den Verlagen DuMont, Vista Point, Lonely Planet, Bucher, Apa Guide. |
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Auskunft: Pro Chile In Chile: Sernatur Lan Chile |
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(Foto Vulkan Villarrica: Website http://www.chileinfo.de ©)
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Stand: 09. May 2002