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Von Henky Hentschel

Montagsenergie

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tark wie ein Bär bin ich.  Bäume könnt' ich aus- reißen, große schöne Mu-

lattinnen lieben, einen Roman schreiben. Es ist Montag, und ich bin stark wie ein Bär.Jeden Montag bin ich das. Wenn diese Energie anhält, habe ich diese

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den Tagesplan. Schließlich leben wir hier in der Planwirtschaft. Aus dem Telefon kommt das Knurren eines bissigen Hundes. Nein, das liegt nicht an der Leitung. Das liegt an meinem Gerät. Auch Faxe kommen nicht mehr durch. Ich rufe bei der 

Woche kein einziges Problem mehr. Ich drehe den Hahn auf, und es kommt Wasser. Das Gas rauscht aus dem Herd, als gäbe es zu viel davon. Ohne jeden Zweifel hat eine Woche der Wunder begonnen, eine, in der alle ihre Verabredungen einhalten, pünktlich sind wie Deutsche, eine, in der ich jeden jederzeit an seinem Arbeitsplatz antreffe, eine, in der alle Geräte einwandfrei funktionieren und alle Telefonnummern stimmen. Eine Woche, in der ich den Frust nicht mit Rum besänftigen muss. Ich trinke Kaffee und erstelle 

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 »Canon« an.» Einen Augenblick bitte! «  Das Mädchen legt den Hörer neben sich. Ich höre Bürotratsch. Drei Minuten vergehen. »Worum handelt es sich?« »In meinem Telefon knurrt ein Hund.« »Einen Augenblick bitte!« Sie legt den Hörer neben sich. Ich höre Bürotratsch. Drei Minuten vergehen. »Worum handelt es sich?« »Das habe ich Ihnen doch gerade erklärt. In meinem Telefon ...« »Das war nicht ich. Einen Augenblick bitte!« Ich höre Bürotratsch. Jemand drückt auf die Gabel. 

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Die Leitung schaltet auf besetzt. Ich wähle neu. Besetzt. Zum Glück gibt es zwei Nummern bei der »Canon«. Ich wähle die zweite. Niemand geht ans Telefon. Ich wähle die erste. Besetzt. Ich verschiebe den Hund auf später. Ich bin immer noch stark wie ein Bär. Mit dem Hund werde ich schon noch fertig werden.
Es klingelt. Das sollte der Schreiner sein. Die Fenster schließen nicht mehr. Die ersten sechs Schreiner haben den Auftrag jeweils freudestrahlend angenommen und sind dann spurlos verschwunden. Der siebte hatte mehr als zuverlässig gewirkt: Statt eines Schnurrbarts trug er eine Brille. »Am Montag um neun bin ich da«, hatte er gesagt. »Punkt neun!«
Ich öffne die Tür, und mein Herz ist voller Hoffnung. Zwei Männer vom Gesundheitsamt stürmen herein, riesige Sprühgeräte in den Händen. Sie desinfizieren die Wohnung. Die Dinger sind lauter als jeder Presslufthammer. Gift wabert durch die Räume. Ich halte mir die Ohren zu und stelle das Atmen ein. Die Küchenschaben flüchten ans Licht und sterben. Es ist schön, wie der Staat über die Gesundheit der Genossen wacht, aber hinterher fehlt mein Feuerzeug. Schwamm drüber! Ich bin stark wie ein Bär. Der Schreiner wird wohl nicht mehr kommen. Der Klempner auch nicht. Der kommt seit sechs Wochen nicht. Es ist alles eine Frage der Gewöhnung. Ich rufe die »Canon« an. »Worum handelt es sich?«
»Ich habe schon vor einer halben Stunde angerufen, aber ...« »Einen Augenblick bitte!« Nach fünf Minuten kommt das Besetztzeichen und übertönt den Hund. Ich streiche die »Canon« vom Tagesplan. Auch in der Planwirtschaft ist schließlich Flexibilität gefragt. Die Badewanne ist schmutzig. Sehr schmutzig. Ich brauche ein Putzmittel. Außerdem brauche ich ein Feuerzeug, denn ich bin starker Raucher. Ich gehe hinunter auf die Straße. Der Wagen ist noch da, aber er springt nicht an. Der Mechaniker ist aufs Land gefahren. Er kommt vielleicht morgen zurück, sagt seine Frau. Ich kaufe ein Feuerzeug. Putz-mittel gibt es nicht. Schwamm drüber, dann bleibt sie eben dreckig, die Badewanne. Baden kann ich so oder so nicht, denn der Stöpsel fehlt. Stöpsel gibt es auch nicht.
Ich rufe den Schriftstellerverband an, um einen Interview-Termin zu bekommen. »Selbst-verständlich! Das ist überhaupt kein Problem«, sagt die Dame. »Und wann?« »Wann?« »Ja, wann? Wann können wir das Interview machen?« »Das muss ich ihn fragen. Er ist noch nicht da. Sobald ich einen Termin habe, rufe ich Sie an.« Der Mann im Tourismus-Ministerium, mit dem ich sprechen möchte, ist in einer Versammlung. Sie rufen zurück. Die Dame im Film-Institut, mit der ich sprechen möchte, ist in einem Meeting. Sie rufen zurück. Der Hund im Telefon knurrt immer lauter. Ich rufe doch wieder die »Canon« an. »Einen Augenblick, bitte!«
»Hören Sie ...« Sie ist schon weg. Drei Minuten vergehen. Sie tratschen immer noch. »Worum handelt es sich? Kann ich Ihnen helfen?« »Ja, Sie können mir helfen, aber nur, wenn Sie mir einen Moment zuhören.« »Einen Augenblick, bitte!« Drei Minuten vergehen, dann kommt das Besetztzeichen. Ich bin nicht mehr ganz so stark wie noch vor drei Stunden. Ich verstaue das Telefax-Gerät in einer Tasche und fahre mit dem Taxi zur »Canon«. Alle sitzen draußen im Vorhof im Schatten, rauchen und ruhen sich aus. Die Computer sind ausgefallen. Ich fahre wieder zurück.
Um ein Uhr kommt Aracelis. Seit Mitternacht hat sie Schlange gestanden, um ein Busticket nach Moa zu ergattern. Der Opa muss nach Moa. Vor zwei Stunden hat ihr der Beamte gesagt, dass Tickets nach Moa nicht mehr montags verkauft werden, sondern donnerstags. Der Rest der Zeit ist für den Rückweg draufgegangen.
»Liebling, wir müssen stark sein!« sage ich. »Stark wie Bären.«
Sie geht. Sie muss zum Busbahnhof und einen Fahrer überreden, dass er vier Kilo Kichererbsen mitnimmt. Ihre Mutter wohnt im fernen Osten, in Santiago de Cuba, und da gibt es keine Kichererbsen. Den Busfahrern ist das Befördern von Kicher- und anderen Erbsen verboten, aber die Post braucht zu lange. Bis sie ankommt, sind die Dinger von diesen kleinen Würmchen zu Mehl verarbeitet.
Ich rufe das Film-Institut an. »Ja, sie war da, aber sie ist wieder weggegangen.« »Und warum haben Sie mich nicht angerufen?« »Ich war beim Mittagessen.«
Ich rufe den Schriftstellerverband an. »Er ist jetzt beim Mittagessen. Gewöhnlich kommt er danach nicht mehr ins Büro. Versuchen Sie es morgen wieder!« »Würden Sie mich bitte anrufen, wenn Sie ihn sehen?« »Selbstverständlich!« Ich rufe das Tourismus-Ministerium an.
»Tut mir leid, das Meeting dauert den ganzen Tag.«
Das Haus, in dem ich wohne, droht bei jedem stärkeren Regen einzustürzen. Die Hinweise der Bewohner bei den zuständigen Stellen bleiben seit elf Jahren erfolglos. Das Gröbste könnte ich selber beheben, denn ich kann ein bisschen mauern. Seit Monaten bin ich auf der Jagd nach Sand, Zement und Kalk. Das Telefon klingelt. »Willst du den Sand immer noch?«
»Natürlich.«
»Ich bringe ihn in einer halben Stunde vorbei. Es sind 20 Pfund. Das wären vier Dollar. Schau zu, dass» du es klein hast.«
Ich habe Hunger. Meine Nachbarn verkaufen Essen in Pappschachteln. Ich gehe runter auf die Straße. »Es wird ein Weilchen dauern. Der Reis ist noch nicht gar.« Ein cubanisches Weilchen entspricht 45 bis 75 Minuten, das ist wissenschaftlich nachgewiesen.
»Macht nichts! Drück einfach auf meine Klingel, wenn es fertig ist, dann lasse ich die Tasche runter.«
Ich steige wieder in den vierten Stock. Ich bin gerade noch so stark wie ein Teddybär, aber das hat sicher mit dem Hunger zu tun. Niemand hat zurückgerufen. Ich bin zwar geschwächt, aber zäh wie ein Terrier und beginne die Runde zum dritten Mal. Ich könnte zäh wie Leder sein, es würde mir auch nichts helfen. Inzwischen geht niemand mehr ans Telefon, denn es ist kurz vor vier. Der Mann mit dem Sand ist dann doch nicht gekommen, und meine Nachbarn, die mit dem Essen, haben mich vergessen. Dafür ist Aracelis zurück. Sie hat zweieinhalb Stunden auf den Busfahrer gewartet, aber der hat den Kopf geschüttelt. »Heute geht es nicht. Der Chef ist da.«
Ich sage mir, dass morgen auch noch ein Tag ist, und in einer halben Stunde fängt im Fernsehen die Übertragung des Baseball-Spiels an. Ich mag Baseball, obwohl ich Deutscher bin. Und Live-Sendungen mag ich auch. Ich stelle den Fernseher an. Der Staatschef spricht. Das Spiel wird nicht übertragen.
»Ari«, sage ich, »ich habe alles erledigt. Ich bin fertig, fix und fertig. Kommst du mit zum Chinesen?«


.Henky Hentschel lebte und arbeitete seit 1990 in der Karibik (Guadeloupe und Guatemala) und seit 1994 in Havanna, wo er am 20. August 2012 unter nicht bekannten Umständen verstarb. Er ist auf dem Cementerio Cristóbal Colón in Havanna begraben.

 

Erschienen in: Salsa einer Revolution
"Eine Liebeserklärung an Cuba Zum 40. Geburtstag"
Mit Photographien von Sven Creutzmann
und Texten von Henky Hentschel
248 Seiten 
Rogner & Bernhard GmbH & Co Verlags KG, Hamburg 1999
Dieses Buch gab es bei Zweitausendeins
ISBN 3-8077-0150-8

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Stand: 11. Juni 2013  

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