Parati, die barocke Perle der Tropen

Von Carl D. Goerdeler, Rio de Janeiro

Wenn die Hähne krähen liegt noch ein sanfter Schleier über dem Meer, der wenig später die Inselkuppen in kupfergoldene Watte packt. Schon spiegeln sich die Kirchtürme und breiten Dächer in der stillen Bucht, und die Fischerboote beginnen unruhig zu tanzen. Wie ein Trompetenstoß weckt der erste Sonnenstrahl die Stadt, die Hunde kläffen, das Muli zieht den klappernden Milchwagen über die Katzenköpfe. 

Der Rauch aus den Holzöfen kräuselt in die blaue Luft und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee ist selbst am Fischmarkt noch zu schmecken, wo die schwarzen Küchenmädchen lautstark mit Bootsleuten um den Fang feilschen. Bom dia, Parati, Du Schöne!

"Ich hab Dich schon gesehen, ich hab Dich schon gesehen!" pfeift der Pirol in seiner Palmenkrone und der Arara krächzt dazu. Die gefiederten Freund sind die einzigen, die die himmlische Morgenruhe der Hotel-Pousada Coxixo ("Flüsterchen") musikalisch bereichern, wenn man einmal vom Brunnen absieht, der im kühlen Innenhof vor sich hin plappert. Dona Maria hat das Frühstücksbüffet ganz nach brasilianischer Art gedeckt, also in tropischer Überfülle. Rotbäckige Mangos, goldgelbe Bananen, rosarote aufgeschnittene Papayas, aus denen schwarzgelackte Samenkörner quellen, flaschengrüne Graviolas, sonnenstrahlige Ananas, frische Caju und saftrote Melonen drängeln sich im Früchtekorb.

Man könnte den ganzen Tag im Schatten der Mangobäume und Fächerpalmen faulenzen, gar nicht erst heraustreten ins grelle Sonnenlicht sondern in der Hängematte schweben und sich sattsehen an der überschwenglichen Natur, die sich mit dem Mauerwerk vermählt, dem stillen Atrium aus Herrenhaus, Gesindetrackt und Gästezimmern, alle unter einem breiten Schindeldach geschützt und von Säulen und Bögen bewacht. Vor zwei, dreihundert Jahren mag sich diesen Hof ein Zuckerbaron oder Goldhändler gebaut haben. Aus dunklem Jacanderá-Holz und dem helleren Rio-Palisander sind die Fensterrahmen, Türstöcke und Dielen roh und schwer zugehauen, so als ob Bootsbauer gezimmert hätten. Die Alkoven-Betten, Nachttische, Sekretäre und Truhen, selbst das Küchengeschirr und die schweren Mörser für das Maniok-Mehl stammen noch aus der Zeit, da Parati am Fuße der Sierra do Mar ein geschäftiger Hafen war, über den das Gold und die Diamanten aus dem Inneren der Kolonie an den Hof nach Lissabon verschifft worden waren.

Der Sohn des portugiesischen Königs krönte sich zum Kaiser von Brasilien, das Gold blieb im Lande, und Parati fiel in einen Dornröschenschlaf; es träumt noch immer vor sich hin. Die Kanonen des alten Forts, die die Piraten abschrecken sollten, sind voller Pockennarben verrostet, aber die Kirchen und Kneipen, die Stadtpaläste und stillen Höfe haben eine Patina angesetzt, so wie das Rouge auf der Wange eines blassen Mädchens. Jeder Stand hatte damals sein eigenes Gotteshaus; der Adel "Unsere Liebe Frau der Schmerzen", die Bürger die Hauptkirche "Unsere Liebe Frau der Gnaden", die freigekauften Mulatten "Santa Rita" und die Sklaven "Unsere Liebe Frau des Rosenkranzes". Die barocken Kirchlein recken ihre Hälse über Mönch und Nonne, wie die roten Schindeln heißen, mit denen alle die niedrigen, höchsten zweistöckigen Häuser gedeckt sind.

Parati wurde bereits vor 60 Jahren unter Denkmalschutz gestellt; kein Auto darf in die Innenstadt. Heute wetteifern die Bewohner darin, die historische Bausubstanz zu pflegen oder zu renovieren - wie zum Beispiel die reichen Ornamente an den Gassenecken; ein Erbe der Freimaurer, die im 18. Jahrhundert vor der Inquisition aus Spanien geflüchtet waren und sich im fernen Brasilien niedergelassen hatten. Verschwiegene Hotels, Familienpensionen, Antiquitätenläden und zahlreiche Gasthöfe haben sich in den alten Patrizierhäusern niedergelassen. Parati ist touristisch voll erschlossen, doch vor Weihnachten und nach Karneval bleiben die 4.000 Bewohner unter sich, die Ausflugsboote werden dann wieder zu Fischerkuttern ungerüstet.

Die guten Geister der Perle am Atlantik mögen nicht mehr die katholischen Heiligen sein,
sondern die Reichen und Schönen. Ives Pitanguy, der ein paar Seemeilen weiter eine Insel bewohnt, - der weltberühmte Schönheitschirurg - gehört zu ihnen ebenso wie Sônia Braga und José Wilker, Telenovela-Stars, die jeder kennt. In Paratí gafft man sie nicht an, denn sie gehören einfach dazu.
Die Nachrichten von Gewalt und Verbrechen dringen nur ganz gedämpft bis hier durch. Der "Delegado" kann sich über Arbeit nicht beschweren; seit vielen Jahren ist nichts vorgefallen, wenn man einmal von den paar bekifften Jugendlichen aus Sao Paulo absieht, die im Karneval über die Strenge schlagen.

Granitgebirge, Regenwälder, kristallklare Wasserfälle, stille Lagunen und geheimnisvolle Dickichte, blendend weiße Strände, die wie Perlenketten die unzähligen Inselchen im blauen Ozean umgürten: Costa Verde, grüne Küste, heißt dieses Paradies, in dem die Natur in tropischer Wollust alles ausprobiert, was ihr zur Verfügung steht. Auch schwermütige Stunden, wenn die Regenschleier aus den Baumkronen der Palisanderbäume und Fächerpalmen nicht weichen wollen, gehören dazu. Selten lastet der atlantische Waschlappen aber länger als ein, zwei Tage über der Küste; hernach blitzen die Blätter wie gelackt wieder in der warmen Sonne.

Balsam für die Seele des gestressten Asphaltneurotikers, das ist Parati. Dabei liegt dieses barocke Kleinod nur wenige Autostunden von den beiden Mega-Metropolen Sao Paulo und Rio de Janeiro entfernt. Selbst die Morgenzeitungen kommen noch rechtzeitig zum Frühstück auf den Tisch. Nah am Weltgeschehen - und doch entrückt von seinem Lärm: Leben in der Idylle.

Im Umkreis von Parati kann man 65 unbewohnte Inseln und 300 einsame Strände entdecken. Zum Badevergnügen kommen wohl die meisten Gäste angereist. Aber gleich hinter dem Ort locken auch die Gipfel der Serra do Mar, bis zu zweitausend Meter in die dunklen Wolken steigen sie hoch, dicht mit Regenwald bewachsen und als Nationalpark geschützt. Kaum sechs Kilometer die rote Erdstraße durch Dschungel hinauf lädt die alte Fazenda Muruycana zur Rast, um auf des Schusters Rappen die Gegend zu erkunden oder ein klares Gläschen Schnaps aus eigener Brennerei zu probieren. "Wer nicht trinkt, schnüffelt wenigstens am Glase", heißt es bei den Bauern, die in Parati ihren eigenen Geist unter solch phantastischen Namen wie "Noch einen", "Schöne Aussicht" oder "Sorgenbrecher" aus Zuckerrohr destillieren: "Nao há mulher sem graça, nem festa sem cachaça"; keine Frau ohne Charme- kein Fest und Schnaps.

Am Abend sitzen Jung und Alt wie die Hühner auf der Stange vor der Hauptkirche; händchenhaltend defilieren die Fischertöchter vorüber, feurige Blicke der Burschen naschend. Sie haben ja Recht: Nur der Besen gehört in die Ecke, hier aber heißt es sehen und gesehen werden. Der süße Melodie einer "modinha", von Gitarre und Querflöte zur Ausführung gebracht, beschwingt den Abend, der so lange dauert, dass selbst die Grillen mit ihrem Streichorchester keine Zugabe mehr geben.

Info

Parati liegt bequeme vier Busstunden von Rio de Janeiro, und fünf von Sao Paulo entfernt an der Atlantikküste. Achtzig Gasthöfe und Pensionen jeder Preisklasse sind vorhanden. Verschiedene deutsche Reisebüros haben Parati-Hotels unter Vertrag.

Tipp

Vom 18. bis 20. August ist in Parati, der bukolischen kolonialen Hafenstadt auf halbem Wege zwischen Rio und Sao Paulo, der Schnapsteufel los. Zum "Festival de Pinga", zum Fest der Schnapsverköstigung werden schätzungsweise 25.000 Touristen nach Parati kommen. Die Destillation von Zuckerrohrschnaps (Pinga) gehört zur hohen Kunst der zahlreichen Brennereien der Region. Und es gibt genügend Kenner, die einen ehrlich gebrannten Pinga jedem Obstlervorziehen... Doch wer nüchtern Parati betrachtet, der braucht keinen Alkohol, um in Verzückung zu geraten.


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Stand: 19. Januar 2009
 

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